
In einem Impulsreferat zum Thema „Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise als Zäsur zur Rückbesinnung auf den Sozialstaat? Die Rolle der Sozialpolitik in den Parlamenten“ setzte sie sich dabei auch mit den Folgen der schlechten Wahlergebnisse bei der Europawahl und bei verschiedenen nationalen Wahlen für die Sozialdemokratischen Parteien auseinander. Hier einige Auszüge aus ihrer Rede:
„Die mir aufgetragene Frage, ob die globale Finanz- und Wirtschaftskrise eine Zäsur darstellt, die zu einer Renaissance des Sozialstaates führt, scheint auf den ersten Blick einfach zu beantworten, denn seien wir ehrlich: haben wir nicht eigentlich alle angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise ein Stück weit darauf gehofft, dass diese uns die Wählerinnen und Wähler wieder in die Arme treiben würde, weil doch so offensichtlich wurde, dass die Politik der Liberalisierung und Deregulierung gescheitert ist, dass es eines starken Staates bedarf, um dem freien Spiel der freien Kräfte Einhalt zu gebieten und dass ein starker Sozialstaat von Nöten ist?
Die Realität hat uns jedoch die bittere Erkenntnis gebracht, dass das, was für uns so augenfällig und offensichtlich ist, für die Wählerinnen und Wähler keineswegs der Fall war. Der Erfolg der konservativen und vor allem der liberalen Parteien lässt die Befürchtung aufkommen, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht zu einer Rückbesinnung auf den Sozialstaat, sondern zu einem mehr an Marktradikalismus führt.
Die Stimmenverluste der SPD bei den zurückliegenden Wahlen sind dabei kein Einzelfall, der sich nur in Deutschland ereignet hat. Überall in Europa haben Sozialdemokraten schmerzhafte Verluste hinnehmen müssen – einzige Ausnahme bildet die PASOK in Griechenland, die am vergangenen Wochenende die Wahlen gewinnen konnte.
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament waren die Nichtwähler die größte Gruppe, die Wahlbeteiligung fiel europaweit auf 43 %. Die Zahl der rechten antieuropäischen Parteien im Europäischen Parlament ist gestiegen. In nur noch 7 von 27 EU-Staaten regieren Sozialdemokraten bzw. Sozialisten.
Diese Zahlen zeigen, dass es in den nächsten Jahren mehr als schwierig sein wird, Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa zu gestalten. Zudem besteht die Gefahr, dass wir bei der Übermacht an konservativ und wirtschaftsliberal geprägten Regierungen und Parlamenten auch noch die Deutungshoheit darüber zu verlieren, was eigentlich Sozialpolitik ist und was ein Sozialstaat leisten muss.
Mit Blick auf die Diskussionen, die im Moment in meiner eigenen Partei geführt werden, sage ich aber auch: Bei aller notwendigen Selbstreflexion wäre es falsch und zutiefst fatal, sich selbst und die in den vergangenen Jahren in der Regierung geleistete Arbeit – gerade in Bezug auf die Reform der sozialen Sicherungssysteme zu negieren und diese gleichsam postum für grundsätzlich falsch oder gar unsinnig zu erklären. Dies würde uns unglaubwürdig machen und wäre zudem auch inhaltlich aus meiner Sicht der falsche Weg. Dies heißt jedoch nicht, dass Diskussionen über konkrete Ausformulierungen oder über unbeabsichtigte Folgen der Reformen ausgeschlossen sind – im Gegenteil. Aber wir dürfen dabei nicht "das Kind mit dem Bade ausschütten" und der Versuchung erliegen, uns in puren Populismus zu ergehen und den Menschen nur die Antworten zu geben, die sie gern hören möchten.
Es darf nicht verkannt werden, dass viele Reformen, die Sozialdemokraten auf den Weg gebracht haben, auch deshalb teilweise als so schmerzhaft empfunden werden, weil es zuvor – und das nicht nur in Deutschland – eine Art Reformstau gegeben hat und beispielsweise eine CDU-regierte Bundesregierung den Menschen seinerzeit fast schon gebetmühlenartig verkündet hatte, die Renten seien sicher, obwohl der demographische Wandel und die damit einhergehenden Folgen für eine beitragsfinanzierte Rente schon damals absehbar waren. Dass soziale Sicherungssysteme, die eigentlich nur für Ausnahmesituationen konzipiert worden waren, plötzlich aber zur Regelfinanzierung von einer großen Zahl von Langzeitarbeitslosen wurden, dies auf Dauer nicht würden tragen können, war ebenfalls eine Tatsache, die eigentlich bekannt war. Geschehen ist dennoch wenig. Es waren dann sozialdemokratische Regierungen, die dann – letztlich viel zu spät – diesen Reformstau aufgelöst haben, mit dem Ergebnis, das gerade die Menschen sich von uns verraten fühlten, für die wir eigentlich immer eingetreten waren.
Selbstkritisch bleibt auch festzuhalten, dass es der Sozialdemokratie in Europa in den Zeiten, in denen Sie eigentlich noch Mehrheiten hatte, nicht gelungen ist, die Finanzmärkte so zu regulieren, dass die Finanzkrise hätte verhindert werden können. Hier fehlte häufig genug der Mut sich mit der einflussreichen Branche anzulegen. Zuweilen wurden die Weichen auch in die falsche Richtung gelenkt, beispielsweise wenn man in die Erleichterungen für Hedge Fonds denkt, wie Sie in Deutschland von einem sozialdemokratischen Finanzminister auf den Weg gebracht wurden. Auch auf dem Weg zu einer gemeinsamen oder zumindest koordinierten Steuerpolitik in Europa sind wir nicht wirklich weitergekommen. Stattdessen fand auch unter Beteiligung von Sozialdemokraten im Bereich der Unternehmensbesteuerung vielerorts eine Art Steuersenkungswettbewerb statt, der für alle gleichermaßen schädlich ist. Nicht, dass man nicht über die Senkung von Unternehmenssteuern nachdenken dürfte, aber wenn dies geschieht, muss dem ein koordiniertes und abgestimmtes Handeln folgen.
Zwar ist es auf EU-Ebene den Sozialdemokraten im EP zu verdanken, dass viele Fortschritte für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den Weg gebracht wurden. Dennoch erleben wir immer wieder, dass die Wettbewerbsfreiheit über die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von Verbraucherinnen und Verbrauchern gestellt wird. Bei allem guten Willen, den das EP zum Beispiel bei der Entsenderichtlinie an den Tag gelegt hat, muss man selbstkritisch eingestehen, dass diese offenbar nicht klar und eindeutig genug formuliert war, denn sonst wäre es dem EuGH kaum möglich gewesen, der Dienstleistungs- und Wettbewerbsfreiheit den Vorrang zu geben und damit Lohn- und Sozialdumping in Europa weiter zuzulassen.
Die Liste ließe sich weiter fortführen. Dies alles führt dazu, dass Politik im Allgemeinen und sozialdemokratische Politik im Besonderen von vielen Menschen nicht mehr als der Raum wahrgenommen wird, der dazu beiträgt, ihr Leben besser zu machen, obwohl dies in vielfältiger Hinsicht durchaus der Fall ist. Auf europäischer Ebene kommt erschwerend hinzu, dass wir nur schwer vermitteln können, was wir als Abgeordnete dieses Parlaments eigentlich treiben und somit auch sozialdemokratische Politik in Europa nur bedingt wahrgenommen wird.
Sicherlich gibt es keine monokausale Erklärung dafür, dass es der Sozialdemokratie in fast ganz Europa zurzeit nicht gelingt, das Vertrauen der Menschen zu erringen. Ein Grund dafür ist aber sicherlich, dass wir ganz offenbar nicht in der Lage sind, ein schlüssiges Gesamtkonzept dafür zu präsentieren, wie wir die Zukunft unserer Länder und der EU zum Wohle aller Menschen gestalten wollen. Die Anziehungskraft der Sozialdemokratie in ihrer langen Geschichte bestand immer im wesentlich darin, dass wir den Menschen eine Idee von einem besseren Leben vermitteln konnten. Dass wir schlüssig darlegen konnten, wie wir Freiheit, Chancengleichheit und Solidarität erreichen wollten. In diesem Sinne waren wir immer Volks- und nicht Klientelparteien. Noch in den 80iger Jahren konnten wir mit unserer Politik den Menschen reale Aufstiegschancen bieten – heute geht es vielfach nur noch darum, den Mangel zu verwalten.
Gerade als deutsche Sozialdemokratin stehe auch ich knapp zwei Wochen nach der Wahl noch unter einer gewissen Schockstarre. Die hektische Betriebsamkeit beim Austausch der Personen an der Spitze meiner Partei kann und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Sozialdemokratie in Deutschland und in Europa in der nächsten Zeit einigen sehr grundlegenden inhaltlichen Fragen zu stellen hat.
Dabei geht es nicht so sehr darum, dass es uns an Programmatik fehlen würde. Die Sozialdemokratischen Parteien zeichneten sich immer dadurch aus, dass sie Programmparteien waren – dabei sollte es nach meiner Überzeugung auch bleiben. Wir brauchen aber dennoch eine neue Selbstvergewisserung über einige ganz grundsätzliche Fragen.
Wir brauchen nach meiner Überzeugung eine intensive europaweite Debatte über die Rolle des Staates. Wir müssen uns darüber verständigen, was er leisten muss, in welchen Bereichen er allein die Verantwortung übernehmen muss, wo er Rahmenbedingungen setzen und Grenzen ziehen muss und wo es besser ist, dem Markt das Handeln zu überlassen.
In Deutschland gibt es den schönen und wie ich finde sehr treffenden Begriff der Daseinsvorsorge – die englische Übersetzung des "public service" gibt dabei nur sehr unzureichend wieder, was eigentlich gemeint ist. Die Daseinsvorsorge umfasst eine Fülle von unterschiedlichen Bereichen und erstreckt sich von der Versorgung mit Wasser und Energie sowie der Entsorgung von Abfall und Abwasser über den öffentlichen Personennahverkehr, der Bereitstellung von Verkehrsinfrastruktur bis hin zu den Bereichen Bildung, Schule, Gesundheit, Wohnungswesen, Kultur sowie der Betreuung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen und vielfältigen sozialen Dienstleistungen. Die Frage nach der Rolle des Staates umfasst in meinem Verständnis auch die Klärung, wie und in welcher Weise wir diese öffentliche Daseinsvorsorge gewährleisten wollen. Der in der EU so oft beschworene freie Wettbewerb ist kein Selbstzweck, der über alles andere gestellt werden darf. Es gibt schlicht grundlegende Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die nicht dem Wettbewerb anheimfallen dürfen. Aus dieser grundsätzlichen Klärung lässt sich dann jeweils die Beantwortung von Einzelfragen ableiten. Und unsere Politik würde einem roten Faden folgen können, der sich von der europäischen Ebene bis hin zu den kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften zieht. Wir würden uns damit gleichsam von einer anderen Seite der Frage nach der zukünftigen Rolle des Sozialstaates nähern und zwar ganz unabhängig von den vielen unterschiedlichen Systemen der sozialen Sicherung. Ich plädiere also dafür an den Grundsätzen und nicht an den Details anzusetzen.
Damit würde der Sozialstaat gleichzeitig umfassender definiert, als dies langläufig der Fall ist – es geht nicht allein um die sozialen Sicherungssystems, die Menschen auffangen sollen, die in Not geraten sind.
Sozialpolitik ist mehr als nur ein Auffangnetz. In der Sozialpolitik muss es auch darum gehen, gesellschaftliche Teilhabe von Menschen sicher zu stellen, ihnen einen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen. Gesellschaftliche Teilhabe ist mehr als nur Essen, Trinken, Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu haben. Es ist die Möglichkeit, sich aktiv in die Gesellschaft mit seinen jeweils individuellen Fähigkeiten einzubringen, sich zu informieren, weiterzubilden, an kulturellen und/oder sportlichen Aktivitäten teilzunehmen – kurz sich als wertvoller Teil der Gesellschaft zu fühlen und als solcher anerkannt zu werden.
In unseren Gesellschaften ist nach wie vor Erwerbsarbeit eine wesentliche Voraussetzung für eine solche gesellschaftliche Teilhabe – Menschen die keine Arbeit haben, fühlen sich häufig unabhängig von den damit einhergehenden ökonomischen Problemen aus der Gesellschaft ausgegrenzt.
Bildung und Ausbildung ist daher in meinem Verständnis der wesentliche Schlüssel einer vorsorgenden Sozialpolitik. Eine gute Bildung und Ausbildung schützt zwar nicht davor, innerhalb eines langen Berufslebens irgendwann einmal den Job zu verlieren, aber sie erhöht die Chancen, schnell wieder in Arbeit und damit in ökonomische Unabhängigkeit zu kommen.
In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Staatsverständnis steht auch die Frage wie es uns gelingen kann, die beiden zentralen Herausforderungen unserer Zeit miteinander zu verknüpfen, die ich unter den Stichworten "Arbeit und Umwelt" zusammenfassen möchte. Der Deutschlandplan, den Frank-Walter Steinmeier vor einigen Wochen vorgelegt hat, kann dabei einen Ansatz bilden für eine Art "Europaplan".
Abschließend noch einige wenige Sätze zur Rolle der Parlamente, bzw. der Abgeordneten: Sie müssen gerade in der Opposition eine besondere und viel stärkere Rolle wahrnehmen. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Politik auch nach außen zu vermitteln und sie den Menschen näher zu bringen. Und hier spreche ich jetzt vor allem als Europaabgeordnete: Wenn wir wollen, dass sich die Grundideen unserer Politik wie ein roter Faden durch die Arbeit auf den verschiedenen politischen Ebenen zieht, dann brauchen wir eine stärkere und bessere europaweite Koordinierung unserer Programme und vor allem unseres politischen Handelns. Wir brauchen nicht nur eine intensivere Diskussion auf der Ebene der SPE als Partei sondern vor allem eine stärkere Zusammenarbeit und Koordination der verschiedenen politischen Ebenen. Bälle die wir beispielsweise im Europäischen Parlament aufschlagen, müssen von unserer Kolleginnen und Kollegen in den nationalen und oder regionalen Parlamenten aufgefangen und weitergespielt werden – und auch umgekehrt. Wir müssen uns stärker als bisher über die verschiedenen Parlamente hinweg als Team verstehen und nicht eifersüchtig darüber wachen, wem die Urheberschaft für eine bestimmte politische Initiative zugeschrieben wird. Zurzeit ist die Realität eine andere: wenn wir ehrlich sind, dann interessieren sich unsere Kolleginnen und Kollegen in den nationalen und regionalen Parlamenten nur bedingt für das was wir in Europa so treiben. Erst wenn eine Richtlinie zur Umsetzung in nationales Recht ansteht, wird man in der Regel darauf aufmerksam und wenn es etwas Positives ist, das aus Europa gekommen ist, heimst man die Lorbeeren lieber selber ein, anstatt es als gemeinsames sozial¬demokratisches Werk zu verkaufen.
Wenn es uns gelingen würde, hier zu einem besseren Miteinander in der Formulierung politischer Ansätze und Ideen zu kommen, kann die Sozialdemokratie in Europa insgesamt davon profitieren: Wir schärfen unsere Profil auf allen Ebenen und lassen unser politisches Handelns als in sich schlüssiges Ganzes erkennbar werden.
Nur gemeinsam können wir unser auf Solidarität, Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit ausgerichtetes Gesellschaftsmodell festigen und weiterentwickeln und die Menschen davon überzeugen, dass wir die besseren Antworten für eine gute Zukunft haben. Solche Konferenzen wie diese stellen einen wichtigen Beitrag dar, eine bessere Koordinierung unserer Arbeit an den verschiedenen Stellen zu erreichen, daher ist der FES ausdrücklich zu danken, diesen Austausch inzwischen zum 11. Mal zu ermöglichen.
Seit vielen Jahren wird über das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters philosophiert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es heute mehr denn je einer starken Sozialdemokratie bedarf. Es gibt viel zu viele Probleme auf dieser Welt, die nach sozialdemokratischen Antworten verlangen und ich bin sicher, dass wir in der Lage sind, sie zu geben. Wir sollten uns also nicht entmutigen lassen, es gibt keinen Grund in "Sack und Asche" zu gehen, aber es gibt auch keinen Grund für Selbstgefälligkeit.
Ich hoffe, mit diesen schlaglichtartigen Gedanken für unsere heutige Diskussion einige Anstöße gegeben zu haben. Dass diese sich auch mit der Krise der Sozialdemokratie befasst haben, ist der Zeit geschuldet, in der diese Konferenz stattfindet.“