
Ende November hat der EU-Ministerrat die neue EU-Jugendstrategie verabschiedet. Geregelt wurde der Rahmen für eine jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa von 2010 bis 2018. Doch wie die Strategie konkret umgesetzt werden soll, ist derzeit noch offen. JUGEND für Europa sprach mit Petra Kammerevert MdEP (SPD) als Mitglied im Ausschuss für Kultur und Bildung, über ihre Einschätzung.
JfE: Frau Kammerevert, wo liegen die Stärken, wo die Schwächen der neuen EU-Jugendstrategie?
Kammerevert: Die neue EU-Jugendstrategie formuliert drei übergeordnete Aufgaben, deren Ziel es ist, die Situation von Jugendlichen in Europa zu verbessern. Bis 2018 sollen
1. Jugendlichen mehr Chancen in Bildung und Beschäftigung eröffnet werden,
2. der Zugang aller junger Menschen zur Gesellschaft und ihre Teilhabe an ihr verbessert werden
3. die gegenseitige Solidarität zwischen der Gesellschaft und den jungen Menschen gefördert werden.
Ich stehe uneingeschränkt hinter diesen drei Zielen, da sie ganz allgemein die wichtigsten Herausforderungen an Politik für junge Menschen treffend und knapp formulieren. Zugleich liegt hier die Schwäche einer regelmäßig allgemein gehaltenen Strategie: Den drei Zielen werden insgesamt acht Aktionsbereiche zugeordnet. Diese zeigen aber nur sehr grob auf, durch welche Maßnahmen die Ziele verwirklicht werden sollen. Insoweit sollten wir die neue Jugendstrategie als einen guten Grundbaustein ansehen. Wichtig ist es jetzt, die Strategie mit Leben zu füllen. Dafür bin ich auf die Mithilfe und das Feedback von Jugendverbänden und Jugendinitiativen angewiesen.
JfE: Neu ist auch der Ansatz einer so genannten "evidenzbasierten Politik“. Was heißt das genau?
Kammerevert: Die Förderung der Jugendarbeit soll stärker als zuvor an aktuellen Erkenntnissen der Jugendforschung ausgerichtet werden. Das halte ich grundsätzlich für richtig.
JfE: Stichwort „Strukturierter Dialog“. Dort soll jährlich zu einem bestimmten Themenschwerpunkt verstärkt mit jungen Menschen kommuniziert werden. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten "einen fortlaufenden und regelmäßigen Dialog mit jungen Menschen" organisieren. Ein richtiger Ansatz?
Kammerevert: Auch das halte ich für einen Fortschritt. Wir kennen doch alle jugendpolitische Debatten, zum Beispiel zu einem Kinder- und Jugendbericht in deutschen Landesparlamenten – so ein Bericht dürfte nur selten als TOP 1 auf einer Landtagssitzung gestanden haben. Wir müssen einen anderen Gang einschalten. In Zukunft sollten wir uns bemühen, mehr mit statt über die Jugendlichen zu reden.
JfE: Das klingt pausibel und dennoch abstrakt. Wie kann der „Strukturierte Dialog“ konkret zu mehr Beteiligung führen?
Kammerevert: Das bleibt in der Tat noch abzuwarten. Für die Politik der EU wird es zunehmend üblich, vor einer politischen Entscheidung so genannte Konsultationsverfahren via Internet durchzuführen. Jeder kann sich hieran beteiligen und die Konsultationen werden auch zunehmend von Verbänden, Parlamenten in den Mitgliedstaaten und EU-Bürgern genutzt. Wichtig ist doch wohl eins: Themen, die diskutiert werden, müssen auch den Nerv junger Menschen treffen. Für 2011 lautet das Thema "Jugend und die Welt". Das halte ich für wenig ansprechend. Da sollte man sich lieber zeitnah dem Thema "Jugend und neue Medien" annehmen. Wir sehen doch, dass junge Menschen moderne Vorstellungen von der Nutzung neuer Medien haben, die beispielsweise mit einem Urheberrecht in Einklang zu bringen sind. Mich interessiert jedenfalls, welches die Wünsche und Forderungen der Jugendlichen sind.
JfE: Welche Aktionsbereiche sind Ihnen in der neuen Strategie besonders wichtig?
Kammerevert: Wir sollten schauen, dass die Aktionsbereiche "Partizipation" und "Soziale Integration" in Deutschland ernster genommen werden als bisher. Jugendräte und Jugendparlamente dürfen keine netten Gesprächsrunden sein. Sie müssen tatsächlich die Möglichkeit haben, Einfluss auf Entscheidungsprozesse der Politik zu nehmen. Wir sehen hier vereinzelt erfolgreiche Projekte in Deutschland. Diese gilt es weiter in die Fläche zu tragen. Insgesamt wäre es für alle Akteure der Jugendpolitik gewinnbringend, in einen regen Austausch über best-practice-Modelle einzutreten. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden, kann von anderen lernen und gute Beispiele in die eigene Arbeit übernehmen. Hier kann Europa eine Vermittlerrolle übernehmen.
JfE: Hand aufs Herz, ist die EU-Jugendstrategie jetzt ein großer Wurf oder nicht?
Kammerevert: Die EU-Jugendstrategie ist keine komplette Neuentdeckung. So ist zum Beispiel der Aktionsbereich der Freiwilligentätigkeit in Deutschland schon jetzt sehr gut umgesetzt. Ich behaupte, dass der ganz überwiegende Teil der jetzigen Stellen im Bereich des Freiwilligen Sozialen oder Ökologischen Jahres oder auch das FSJ Kultur ohne eine europäische Förderung in Deutschland nicht denkbar wäre.
JfE: Der EU-Ministerrat hat die neue Jugendstrategie vorgelegt. Können wir uns darauf verlassen, dass das EU-Parlament in diesem Bereich auch seine Kontrollrechte ernst nimmt?
Kammerevert: Ja. Als Abgeordnete müssen wir von der neuen Kommission jetzt eine zügige und konsequente Umsetzung der Strategie einfordern. Dazu wird es sicherlich nicht reichen, alle drei Jahre einen Bericht im Europäischen Parlament zu diskutieren. Seit dem 1. Dezember 2009 kann das Parlament wesentlich mehr Einfluss auf Richtlinien, Verordnungen und weitere Entscheidungen der Kommission nehmen als zuvor. Hier liegt unsere Chance. Es ist damit zu rechnen, dass zukünftige Maßnahmen der Kommission, die für die Umsetzung der EU-Jugendstrategie von Bedeutung sind, tiefgehender und einflussreicher diskutiert werden als bisher. Hieran möchte ich mich gern aktiv beteiligen.
JfE: Was bedeutet das für Deutschland?
Kammerevert: Ich verstehe mich als Mittler zwischen den Akteuren in der deutschen Jugendarbeit und der Kommission. Diese Funktion kann ich umso besser wahrnehmen, je öfter mir von den unterschiedlichen Akteuren vor Ort mitgeteilt wird, wo es gut oder auch schlecht läuft. Träger zum Beispiel sollten mir sagen, wo sie Veränderungen für notwendig und sinnvoll halten.
JfE: Welche Rolle spielt das Geld für eine erfolgreiche Umsetzung der EU-Jugendstrategie?
Kammerevert: Es ist wichtig, darauf zu achten, dass Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen ausreichend Mittel zur Verfügung stellen, damit die in den Aktionsbereichen angebotenen Förderungen optimal abgerufen werden können. Darauf auf Grund der klammen Haushalte zu verzichten, wäre dumm. Die EU-Jugendstrategie wird sich vor allem vor Ort, also in den Kommunen, erfolgreich umsetzen lassen. Hier ist aber auch die deutsche Politik insgesamt gefordert. Sie muss sicherstellen, dass Kommunen, die sich beispielsweise im Haushaltssicherungskonzept befinden und daher häufig freiwillige Leistungen vollständig einstellen müssen, in die Lage versetzt werden, die entsprechenden Kofinanzierungsmittel trotz knapper Kassen bereit zu stellen. Wenn wir es in Deutschland flächendeckend schaffen, das Potenzial, das uns Europa schon jetzt im Bereich der Jugendarbeit zur Verfügung stellt, effizient voll auszuschöpfen, sind wir einen großen Schritt weiter.
JfE: Immer wieder wird über den so genannten bereichsübergreifenden Ansatz in der europäischen Jugendpolitik diskutiert. Zu Recht?
Kammerevert: In der neuen Strategie heißt es: „Ohne wirksame Koordinierung mit anderen Bereichen kann die Jugendpolitik keine Fortschritte erzielen." – Ich halte dies für einen entscheidenden und richtigen Satz. Politik für junge Menschen muss als Querschnittsaufgabe verstanden werden. Wie wichtig das ist, können wir beispielsweise an der Diskussion um die Ganztagsschule sehen: Ein gut durchdachtes und erfolgreiches Ganztagsschulkonzept darf nicht nur klassische bildungspolitische Ziele im Auge haben. Es muss die Bedürfnisse junger Menschen ganzheitlich betrachten. Deshalb ist es notwendig, dass sich Schule für die Konzepte der Jugendarbeit öffnet. Dort sind Erfolge nicht mit Zensuren abrechenbar. Wie erfolgreich solche Konzepte der Zusammenarbeit von Schule mit Jugendarbeit, Sportvereinen und Kultureinrichtungen sind, zeigt eindrucksvoll das Modell der offenen Ganztagsschule in NRW.
Auch andere Politikbereiche wie Arbeit und Beschäftigung, Gesundheit oder Familie müssen stärker von den Interessen junger Menschen durchdrungen werden. Zugegeben: In einer Gesellschaft, in der die Mehrheit immer älter wird, ist das schwierig. Aber eine Alternative gibt es nicht.
JfE: Die „Querschnittsaufgabe“ wird sicherlich auch immer mehr zum Modewort. Wer hat in punkto Verantwortung am Ende eigentlich den Hut auf?
Kammerevert: Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Die Erfahrungen mit Querschnittsaufgaben zeigen, dass es häufig Fälle gibt, in denen sich am Ende niemand mehr wirklich verantwortlich fühlt. Deshalb ist es wichtig, Hauptverantwortliche zu benennen. Sie haben dann nicht nur die Verantwortung zu koordinieren. Sie müssen auch all diejenigen immer wieder an ihre Verantwortung erinnern, die an einer Querschnittsaufgabe beteiligt sind.
JfE: A propos Verantwortung, können Sie verstehen, dass Menschen irritiert sind, wenn sie in EU-Papieren Begriffe wie „junges Humankapital“ als Synonym für Jugendliche lesen?
Kammerevert: Ich möchte darauf hinwirken, dass wir in jungen Menschen in der EU-Politik weitaus mehr sehen als "junges Humankapital". Vergleichbar mit der Kultur stellt auch die Jugend einen Politikbereich dar, der eben nicht nur (sozio-)ökonomisch betrachtet werden kann. Er verlangt Antworten ganz eigener Art und kann sich nicht dauerhaft den gerade aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen der Gesellschaft unterordnen. Dies gilt es stärker in das Bewusstsein unserer Jugendpolitik zu verankern.
JfE: Welche Rollte sollte die deutsche Nationalagentur bei der Umsetzung der neuen EU-Jugendstrategie spielen?
Kammerevert: Ich gehe davon aus, dass JUGEND für Europa in Deutschland die zentrale Rolle bei der Umsetzung der acht Aktionsbereiche zukommt. Ich würde mir wünschen, dass der Nationalagentur neben ihren Kompetenzen in der Information, Beratung und Begleitung von Projekten – Aufgaben, denen sie aus meiner Sicht bislang sehr gut nachkommt – auch eine Kompetenz zugesprochen wird, die es erlaubt, unmittelbar als Interessenvertreter für Projektträger auf europäischer Ebene aufzutreten. Wir sind an einem direkten Dialog mit der Nationalagentur jedenfalls weiterhin sehr interessiert.
JfE: Frau Kammerevert, zum Abschluss, Ihr jugendpolitischer Wunsch für die Zukunft?
Kammerevert: Die EU-Jugendstrategie muss als Gesamtkonzept gedacht werden. Sie sollte erneut Anlass sein, jugendpolitische Maßnahmen ressortübergreifend auf Europa-, Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu koordinieren. Ein Flickenteppich unabgestimmter jungendpolitischer Maßnahmen unterschiedlicher Akteure und Ministerien wird nicht das Ziel erreichen, die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen in Europa zu verbessern.
Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa
Quelle: JUGEND für Europa