EU-Kommission schießt über das Ziel hinaus

"Löschen statt Sperren" muss die Maxime der EU-Kommission sein
"Löschen statt Sperren" muss die Maxime der EU-Kommission sein

Am 29. März 2010 verabschiedete die Kommission einen von der zuständigen EU-Kommissarin für Inneres, Cecilia Malmström, erarbeiteten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornographie vor. Dieser Vorschlag zeigt eine fatale Kontinuität der EU-Kommission im Umgang mit strafbaren Handlungen die über das Internet begangen oder strafbaren Inhalten, die über das Internet verbreitet werden. Diese ergibt sich aus dem Denkansatz der Kommission, dass moderne Kommunikationsmittel (wie das Internet) Gefahren mit sich bringen, denen entschieden begegnet werden muss. Nun wissen wir aber, dass bei der Einführung weltweiter Telefonnetze niemand zullererst an die Möglichkeit gedacht hat, dass man sich mit Hilfe eines Telefons zu Straftaten verabreden kann und daher eine flächendeckende Telefonüberwachung notwendig wäre.

Schon beim Telekompaket war es nur der Hartnäckigkeit des Europäischen Parlaments zu verdanken, dass wenigstens ein Richtervorbehalt vorgesehen wurde, bevor Nutzer auf Grund von Rechtsverstößen vom Internet ausgeschlossen werden. Der hierin gefundene Minimalkonsens zum Schutz von Internetnutzern droht durch die jetzigen Verhandlungen über das ACTA-Abkommen wieder ausgehebelt zu werden. Nach allen bisher bekannten Informationen über die weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenen Verhandlungen, ist geplant, dass zur Durchsetzung von Urheberrechtsansprüchen im Internet auch die Internetdienstanbieter für von ihren Kunden begangene Urheberrechtsverletzungen haftbar gemacht werden können. Dieser Verantwortung sollen sie sich nur entziehen können, wenn sie sich verpflichten, den Datenverkehr ihrer Kunden zu überwachen und ihnen gemäß dem umstrittenen Three Strikes-Prinzip den Internetzugang nach drei Verstößen gegen das Urheberrecht zu sperren.

Auch Anstiftung und Beihilfe zu Urheberrechtsverletzungen sollen offenbar in Zukunft strafbar sein. Zu Recht wird von vielen Kritikern befürchtet, dass dieses internationale Handelsabkommen, den Ausgangspunkt für die weltweite Durchsetzung von Internetzugangssperren und die permanente Kontrolle der Internetnutzung darstellt. Dies wäre gleichbedeutend mit einem erheblichen Eingriff in die Informations- und Kommunikationsfreiheit sowie in den Datenschutz.
Genau in diesem Rahmen bewegt sich auch der Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs, der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie, der jetzt zur weiteren Beratung im Europäischen Parlament vorliegt.

Der Vorschlag geht von der Prämisse aus, dass Straftaten in diesem Bereich zunehmen werden, dass die voranschreitende Entwicklung moderner Kommunikation dieses Problem verschärft und Rechtsvorschriften der EU-Mitgliedstaaten weder streng noch kohärent genug seien, um hierauf angemessen zu reagieren. Er beinhaltet die Festlegung von Vorschriften zur Definition von Straftaten, die der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung sowie der Bekämpfung der Darstellungen sexueller Handlungen an Personen unter 18 Jahren dienen sollen. Abgesehen von der Tatsache, dass der Vorschlag stark in die Systematik von Teilbereichen des Strafrechts und der Strafbemessung in den EU-Mitgliedstaaten eingreift, eine Anzeigenpflicht bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch oder sexuelle Ausbeutung vorsieht, was den meisten europäischen Rechtssystemen ebenso fremd ist wie die strafrechtliche Verantwortung juristischer Personen, wird zudem noch eine Hierarchsierung von Grundrechten vorgesehen, bei der den Rechten der Kinder grundsätzlich Vorrang einzuräumen ist. Dies ist verfassungsrechtlich äußerst bedenklich, da Grundrechte grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen und nur im jeweiligen Einzelfall eine Abwägung erfolgen kann. Natürlich ist das Wohl des Kindes zu schützen. Dennoch dürfen kommunikative Grundfreiheiten diesem Schutzinteresse nicht a priori untergeordnet werden, sondern beide sollen sich in optimaler Weise in unserer Gesellschaft entfalten können.
Eine besondere Brisanz bekommt der Richtlinienvorschlag jedoch durch die Aufnahme konkreter Vorgaben für die Sperrung von Inhalten, „da sich die Entfernung von Kinderpornographieinhalten an der Quelle trotz derartiger Bemühungen aber als schwierig erweist, wenn sich das Originalmaterial nicht in der EU befindet…“, so zumindest die Annahme der EU-Kommission. Im Klartext folgt der Richtlinienvorschlag damit dem Grundsatz „Löschen vor Sperren“. Der Problematik, dass die Sperrung von Internetseiten immer eine Zensurinfrastruktur voraussetzt, ist damit in keiner Weise abgeholfen. Gleichzeitig fordert die Kommission, dass die Strafermittlung und die Anklageerhebung erleichtert werden sollte, wofür die zuständigen Stellen wirksame Ermittlungsmethoden zur Verfügung gestellt werden soll, wozu auch die Überwachung des Telekommuniaktionsverkehrs, die verdeckte Überwachung, einschließlich elektronischer Überwachung, die Überwachung von Kontobewegungen oder sonstige Finanzermittlungen gehören können. Da in keiner Weise klargestellt ist, dass diesen Überwachungen ein begründeter Anfangsverdacht und eine richterliche Genehmigung zugrunde liegen muss, steht zu befürchten, dass damit auch Globalüberwachungen gemeint sein könnten, wie sie beispielsweise im Fall der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland vom Bundesverfassungsgericht wegen schwerer Verkürzung der Grundrechte kürzlich für verfassungswidrig erklärt worden sind.
Es ist völlig unbestritten: Der sexuelle Missbrauch, sexuelle Gewalt an Personen unter 18 Jahren und deren Darstellung gehören zu den schlimmsten Verbrechen, die man an jungen Menschen bzw. überhaupt begehen kann. Sie sind und bleiben strafbare Handlungen, egal ob die Darstellung solcher Handlungen in der analogen oder virtuellen Welt erfolgt. Es gilt die Opfer zu schützen, die Täter zu verfolgen und sie in rechtstaatlichen Verfahren ihrer Strafe zuzuführen. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob diese Ziele mit dem vorliegenden Richtlinienentwurf erreicht werden können.

In der EU muss der Grundsatz „Löschen statt Sperren“ gelten: Inhalte elektronischer Medien, die sexuelle Handlungen an Personen unter 18 Jahren darstellen, sind schnellstmöglich zu entfernen. Die in einigen Mitgliedstaaten der EU bereits eingeführten Internetsperren zeigen, dass sie von Usern leicht umgangen werden können. Sperrungen sind kein wirksames Mittel zur Bekämpfung solcher Inhalte und zur Verfolgung der hinter ihnen stehenden Straftäter. Sperrungen sind ineffektiv, ungenau und oft leicht zu umgehen. Zudem führen Sperren nicht zu einer Beseitigung der Inhalte, sondern nur zu deren relativen Nichtverfügbarkeit, wodurch die Rechtsverletzung des „Zugänglichmachens“ nicht beendet wird. Im schlimmsten Fall, dienen Sperrverzeichnisse, wenn sie in falsche Hände geraten, sogar als eine Art Suchverzeichnis und machen es damit potentiellen Pädokriminellen sogar leichter, an die gesuchten Inhalte zu gelangen.
Bereits heute verfügen die EU-Mitgliedstaaten und die in ihnen tätigen Telekommunikationsunternehmen über funktionierende transnationale Netze, die im Regelfall eine schnelle Löschung der Inhalte garantieren. Jüngste Veröffentlichungen über skandinavische Sperrlisten belegen, dass sich eine Vielzahl der Server in den USA, Australien, den Niederlanden und Deutschland befinden. Ein Abwandern der Anbieter solcher Inhalte und Ländern, in denen eine Löschung unmöglich ist oder erst nach erheblichem Zeitaufwand erfolgt, kann bislang nicht belegt werden.
Stattdessen bewirkt die Schaffung technischer Sperren die Kontrolle von Kommunikationsströmen im großen Stil und weckt Begehrlichkeiten hinsichtlich anderer verbotener oder auch nur unerwünschter Inhalte. Hat sich das Instrument der Internetsperren erst einmal etabliert, wird es nicht nur zum Kampf gegen die sexuelle Darstellung von Personen unter 18 Jahren verwendet werden. Es ist der Einstieg in die Zensur des Internets, die Abkehr vom Grundsatz der Netzneutralität und damit die Aushebelung grundsätzlicher Freiheitsrechte, auf die die EU zu Recht stolz ist. Access-Blocking-Lösungen untergraben das Vertrauen in die Informations- und Kommunikationsfreiheit im Internet.
Ebenso kann der Devise „Löschen vor Sperren“ nicht zugestimmt werden, da auch dies die Errichtung einer Sperrinfrastruktur erfordert. Zudem ist zu erwarten, dass damit lediglich Gelegenheitstäter abgeschreckt werden, was eine derartig grundlegenden Eingriff in die Informations- und Kommunikationsfreiheit nicht zu rechtfertigen vermag.

Der Kampf gegen die Darstellung sexueller Handlungen an Personen unter achtzehn Jahren darf sich nicht nur auf Web-Server beschränken. Es bedarf eines Ansatzes, der gleichermaßen einen Austausch entsprechender Inhalte über File-Transfer-Protocol-Server, E-Mail, Peer-to-Peer-Netzwerke und den Mobilfunk unterbindet. Aber auch hier gilt: Eingriffe in die Informations- und Kommunikationsfreiheit bedürfen, wie schon heute bei Eingriffen in das Post- und Telekommunikationsgeheimnis, eines konkreten Verdachts und eines Richtervorbehalts. Die grundsätzliche oder gar automatisierte Überprüfung elektronischer Kommunikation mithilfe einer wie auch immer gearteten Technologie, die alle Nutzer von Kommuniktaionsnetzwerken unter Generalverdacht stellen, möglicherweise strafbare Handlungen zu begehen, ist auszuschließen.

Es bedarf einer globalen Gesamtstratgegie gegen jegliche Form der sexuellen Gewalt an jungen Menschen. In diesem Sinne ist es dingend erforderlich, dass die EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten Initiativen für verbindliche Übereinkommen ergreift. Die internationale Zusammenarbeit sowohl bei der Löschung der Inhalte, wie auch bei der Verfolgung der Straftäter, beim Opferschutz und in der Prävention bedarf einer deutlichen Stärkung. Die Zusammenarbeit mit bereits bestehenden Netzwerken wie dem internationalen Verband der Internet-Meldestellen (INHOPE) muss verstärkt werden.

Wir täten insgesamt gut daran, die Netzwelt nicht zuallererst und vor allem als Ort krimineller Aktivitäten anzusehen. Das Internet bietet eine Fülle von Möglichkeiten für Information, Kommunikation, Kreativität und auch wirtschaftliche Betätigung, die noch vor zwei Jahrzehnten für kaum möglich gehalten wurde. Wie in der realen Welt, so gibt es auch in der virtuellen Welt Kriminalität, sie gilt es hier wie dort zu verfolgen und zu ahnden. Hier wie dort ist allerdings in jedem Fall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel anzuwenden. Die Schaffung von Zensurinfrastrukturen und/oder die globale Überwachung von Kommunikationsströmen widersprechen diesem Grundsatz grundlegend.

Es bleibt abzuwarten, ob das Europäische Parlament seiner bisherigen Linie treu bleibt und den Vorschlag der Kommission in den entscheidenen Punkten revidiert. Auch die Bundesregierung ist gefordert, der von der Bundesjustizministerin zu Recht geäußerte Kritik am Richtlinienentwurf der Kommission im Ministerrat Taten folgen zu lassen. Eine verstärkte öffentliche Diskussion und entsprechender öffentlicher Druck sowohl in Richtung Bundesregierung wie Europäisches Parlament können dabei durchaus hilfreich sein.