
Statement von Petra KAMMEREVERT auf der Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich schlage am Anfang einen Haken von Südosteuropa nach Ungarn, aber seien sie unbesorgt, ich komme dann über Bulgarien und Rumänien auf Südosteuropa zurück.
Ungarn hat uns gezeigt: Wir haben auf europäischer Ebene feierlich eine EU-Grundrechtecharta errungen. Doch mit der Einführung eines neuen Mediengesetzes in Ungarn mussten wir recht ernüchtert feststellen, dass wir, wenn es um die Durchsetzung der dort verbrieften Rechte geht, auf Grund einer Erklärung zur Grundrechtecharta eher wie ein zahnloser Tiger dastehen und unsere Waffen sehr stumpf sind. In dieser Erklärung heißt es: Die Charta dehnt weder den Geltungsbereich des Unionsrechts über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus noch begründet sie neue Zuständigkeiten oder neue Aufgaben für die Union, und sie ändert nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.
Wir haben nun gesehen, was dies in der Praxis bedeutet: Die Kommission "als Hüterin aller Europäischen Verträge" hat zwar Veränderungen am ungarischen Mediengesetz einfordert – diese bezogen sich aber auf eher technische Details hinsichtlich der AVMD-Richtlinie, betrafen aber nicht den Kern der Kritik aus dem Europäischen Parlament, die sich vor allem auf das Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit bezog. Es ist schon eine unbefriedigende Situation für eine Parlamentarierin, zuzusehen, wie ein Mitgliedstaat recht ungeniert in einem unangenehmen Anflug von Nationalduselei, die mehr und mehr zum Prinzip der Politik in diesem Land zu werden droht, eine ganz eigene Art der Grundrechteinterpretation vornimmt und wir dann auch noch per Kommissionsbescheid mitteilen, "Soweit ok dann". Auch vor dem Hintergrund der gerade in Ungarn verabschiedeten neuen Verfassung und angesichts dieser doch recht nüchternen Bilanz, bin ich vielleicht verständlicherweise nicht gerade in der Stimmung ein Hohelied auf die "Wertegemeinschaft EU" anzustimmen.
Im Gegenteil: Wir müssen uns Sorgen machen – Es ist unklar, wie wir auf Europäischer Ebene die hochgehaltene Grundrechtecharta wirksam, notfalls auch gegen das innerstaatliche Handeln eines Mitgliedstaates, verteidigen können, ohne uns den Vorwurf der Bevormundung einzuhandeln. Bedarf es beispielsweise bei offenkundiger EU-Grundrechtecharta-Missachtung eines Rechts des Europäischen Parlaments zur Normenkontrolle vor dem EuGH auch für nationales Recht? Eine offene, wenn nicht gar eine bislang ungestellte Frage.
Es reicht meines Erachtens nicht, als Parlamentarier nur als Mahner auftreten zu können. Ähnlich regungslos zeigen wir uns auf europäischer Ebene bei Berichten über Verletzungen der Kommunikationsgrundrechte in Bulgarien und Rumänien. Täglich unsere Besorgnis zu beteuern, hilft den unter gefährlichen Bedingungen arbeitenden Journalisten in diesen Ländern wenig. Und nicht ganz zu Unrecht müssen wir uns fragen lassen, mit welchem Recht wir die Situation von Journalistinnen und Journalisten und die mangelnde Presse- und Meinungfreiheit in Staaten wie China oder in den arabischen Staaten kritisieren, wenn wir es noch nicht mal schaffen, diese zu Hause vernünftig zu gewährleisten.
Und wegen dieser schlechten Erfahrung werden wir aus Sicht der den EU-Beitritt anstrebenden Länder ihnen gegenüber unfair: Sie wenden teilweise zu Recht ein, dass sie große Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Kommunikationsfreiheiten unternehmen. So hat zum Beispiel Bosnien die Online-Medien der Selbstkontrolle seines Presserates unterworfen, ein lobenswerter Schritt, den wir auch in Deutschland erst 2009 vollzogen haben. Somit haben wir ein doppeltes Problem: Einerseits vermissen wir Mittel und Wege innerhalb der Gemeinschaft bei denen, die bereits Mitglied sind, für eine optimale Entfaltung kommunikativer Grundrechte zu sorgen, so dass der Eindruck entsteht, "Einmal dabei kann man machen was man will" und andererseits schauen wir wegen dieser schlechten Erfahrung bei Beitrittskandidaten immer genauer hin und scheinen die Latte an den aquis communautaire für die Kandidaten immer höher zu hängen. Es wird in Rat und Parlament unsere Aufgabe sein, diese Entwicklung nicht weiter auseinanderdriften zu lassen.
Wir müssen fair mit den südosteuropäischen Beitrittskandidaten verhandeln, diese Fairness verlangt aber auch, dass wir jetzige EU-Mitglieder dazu anhalten, hoch gefeiertes Recht ebenso hoch zu schätzen und jegliche Politik an ihr auszurichten. Das muss für Bulgaren, Ungaren, Deutsche und Rumänen gleichermaßen gelten. Wertevielfalt meint nämlich nicht laissez faire bei der Auslegung der europäischen Grundrechte, sondern vielmehr in Achtung der Vielfalt von Meinungen, Kulturen und Lebensweise das jeweils Andere zuzulassen und auch Widerspruch zum eigenen Tun zu dulden. Wertevielfalt kann nicht gleichbedeutend sein mit Beliebigkeit. Die Grundrechtecharta darf eben nicht mit dem Hinweis auf kulturelle Unterschiede durch die Hintertür ausgehebelt werden. Um dies zu gewährleisten bedarf es entsprechender wirkungsvoller Instrumente. Welche das sein können und wie sie ausgestaltet werden müssen, ist zu diskutieren.