Tagung "European Heritage" der Bonner Gesellschaft für Volkskunde und Kulturwissenschaften e.V.
Verehrte Mitglieder der Bonner Gesellschaft für Volkskunde und Kulturwissenschaften!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Vielleicht würde es den Menschen in der EU leichter fallen, die vielen Krisen jüngster Zeit zu überstehen, wenn wir in der Entwicklung der vielgepriesenen "Europäischen Identität" bereits weiter vorangeschritten wären. Ich behaupte sogar, dass es nach wie vor falsch ist, dass nationale und europäische Politiken der Herausbildung einer europäischen Identität eine nur nachrangige Bedeutung beimessen, die (überspitzt) allerhöchstens für feingeistige Diskussionen tauge. Die 65 Jahre alte "Oma Europa neuster Geschichte" muss mit Entsetzen feststellen, dass ihre Enkel, spanische Jugendliche zum Beispiel, ihr nicht mehr trauen und ihr Wirken als Friedensstifterin bezweifeln, ja ihr sogar Stiftung sozialen Unfriedens vorwerfen. Und dennoch holt uns das politische Tagesgeschäft viel zu häufig ein und verführt uns dazu, die Aufgabe "Identitätsbildung" sträflich zu vernachlässigen.
Umso mehr freue ich mich darüber, mit Ihnen heute zu erörtern , warum der Erhalt eines europäischen kulturellen Erbes wichtiger Bestandteil der EU-Kulturpolitik ist, welchen Beitrag ein kulturelles Erbe für die Zukunft der EU leisten kann und dass Sie mir hoffentlich mit auf den Weg geben, wie ich in diesem Sinne noch besser in Brüssel wirken kann. Der Zinkhütter Hof und Stolberg in der Euregio Maas-Rhein sind als Veranstaltungsort gut gewählt. Ähnlich wie in meiner Heimat zwischen Rhein und Ruhr wird hier greifbar, welchen Wandel Industrielandschaften durchleben und das dieses Verständnis unabdingbar ist, will man konstruktiv regionale und überregionale Zukunftsperspektiven entwickeln. Die EUREGIO Maas-Rhein kann gleich mit mindestens fünf UNESCO-Weltkulturerbestätten aufwarten: Jeweils mit den Belfrieden und den Beginenhöfen in den belgischen Städten Tongeren und Sint Truiden und mit dem ersten deutschen Weltkulturerbe, dem Aachener Dom. Insgesamt ist die Region mit ihren 3,9 Millionen Einwohnern reich an kulturellem Erbe, auch ohne den begehrten amtlichen Titel. Denken Sie an die St. Servatius-Basilika in Maastricht oder an das beeindruckende Gebäude des Museums für Archäologie und darstellende Kunst, "Le Grand Curtius" in Liège, der belgischen Stadt, die wegen deutschen Größenwahns in zwei Weltkriegen nahezu um ihr gesamtes kulturelles Erbe gebracht wurde.
Der Reichtum an kulturellem Erbe kann wichtige Quelle für Identität und ein Motor für Kreativität sein. Wie aber sorgen wir dafür, dass die Quelle sprudelt und der Motor rund läuft?
Sicherlich können wir eine kulturelle bzw. europäische Identität nicht nur durch schlichte Bezugnahme auf Vergangenes und Ererbtes stiften. Vielmehr gilt es Vergangenes und Ererbtes mit der Gegenwart und der Zukunft zu verknüpfen. Wir müssen uns unserer gemeinsamen Vergangenheit und den verbindenden Elementen, aber auch den Unterschieden und der Vielfalt bewusst werden und bleiben, damit wir gemeinsam an einer guten Zukunft für Europa bauen können. Das kulturelle Erbe bildet dabei einen wunderbaren Ausgangspunkt. Wesentliche Aufgabe ist es, dass kulturelle Erbe zu aktivieren: Unter Bezugnahme auf diese Haltepunkte europäischer Kulturgeschichte müssen Kommunikationsprozesse erzeugt werden, die eine Verständigung von Menschen unterschiedlichster Herkunft zum Ziel haben. Wie kann es gelingen ein für möglichst viele Menschen leicht zugängliches Angebot zu schaffen, das einen leicht verständlichen Bezug zu ihrer eigenen Identität und ihrem eigenen gegenwärtigen Leben herstellt? Wie kann mit Hilfe einer solchen Bezugnahme in ihnen wenigstens ein Interesse erzeugt und bestenfalls zu eigener, kreativer Schöpfung anregen? Wie kann kulturelles Erbe pro-aktivierend wirken?
Im Sinne dieser Fragestellung ist die Ruhr 2010, die Kulturhauptstadt des vergangenen Jahres, die eine ganze Region umfasste, durchaus beispielgebend. Hier ist es in – wie ich finde – hervorragender Weise gelungen, Tradition und kulturelles Erbe mit der Gegenwart und der Zukunft der Region und vor allem mit den Menschen zu verbinden. Traditionen zu wahren, sich der eigenen Vergangenheit und dem kulturellen Erbe bewusst zu werden, Neues daraus entstehen zu lassen, Kreativität und kulturelles Schaffen zu fördern, eine Ganze Region aus dem Vorurteil von Dreck und Schmutz zu befreien, Freude an Kultur zu wecken, ein neues Selbtbewusstsein und damit eine gemeinsame Identität zu entwickeln und vor allem die Menschen dabei mitzunehmen: die Kulturaffinen, die sich schon immer der Hochkultur gewidmet haben für andere Formen der Kultur zu gewinnen, die sie bislang für zu profan gehalten haben, ebenso wie diejenigen an Kultur heranzuführen, die damit bislang nichts bis wenig zu tun hatten. Hier ist eine neue gemeinsame Identität entstanden, die keine Resolution und keine gemeinsame Erklärung der Welt zustande gebracht hätte. Das dabei auch gleichzeitig noch neue Formen der Kreativwirtschaft gefördert wurden und entstanden sind, die auch wirtschaftlich von großer Bedeutung sind, für eine Region, die den Strukturwandel noch immer nicht vollständig bewältigt hat, ist ein positiver Nebeneffekt, der keineswegs gering zu schätzen ist.
Sowohl das UNESCO-Weltkulturerbesiegel als auch das sich kurz vor einer Neuauflage befindliche Europäische Kulturerbesiegel können einen kleinen Anschub geben, in diesem Sinne weiter zu arbeiten. Dies wird aber nur gelingen, wenn wir uns nicht darauf beschränken, irgendwo ein goldenes Schildchen anzubringen oder eine Tafel an der Autobahnausfahrt aufzustellen.
Im April 2006 haben Frankreich, Spanien und Ungarn die Idee des Europäischen Kulturerbesiegels entwickelt: Der Hinweis auf gemeinsame Geschichte solle dazu genutzt werden, das Zugehörigkeitsgefühl europäischer Bürger zu Europa zu stärken. Nunmehr soll das Siegel EU-weit eingeführt werden, nach gleichen, genau definierten Kriterien vergeben und mit einem effizienten Kontrollsystem versehen werden, damit Sichtbarkeit, Wirkung und Glaubwürdigkeit des Siegels erhalten bleiben. Ferner solle es nach dem Willen der Kommission einen Anreiz geben, dass die mit dem Siegel ausgezeichneten Stätten eng zusammen arbeiten, um bewährte Verfahren auszutauschen und gemeinsame Projekte durchzuführen. Rat, Parlament und Kommission verhandeln derzeit in einem Trilog-Verfahren einen gemeinsamen Beschluss. Strittig ist beispielsweise, ob jedes Jahr oder nur alle zwei Jahre, 27 Stätten in den Genuss des Siegels kommen.
Mit Blick auf alle Erbetitel und Erbesiegel plädiere ich sehr für eine restriktive Vergabe. Ein inflationäres Anerkennen von Titeln und Anbringen von Siegeln würde zu einem unaufhaltbaren Relevanzgefälle führen und den Sinn in der Wahrung jeglichen kulturellen Erbes unterlaufen. Unsere Gesellschaft durchlebt eine Entwicklung, die von Individualismus und Diversifizierung geprägt ist. Umso wichtiger wird es, dass Gemeinsames, nämlich der auf demokratischem Weg errungene gesellschaftliche Konsens, wie ein Leuchtturm aus der Masse herausragt und Orientierung bietet. Jeder Titel und jedes Siegel wird umso wertvoller, je breiter (und teilweise auch kontrovers) im Vorfeld zu dieser Ehrung ein gesellschaftlicher Diskurs hierüber stattfindet. Das stellt nicht in Abrede, dass das anerkannte Erbe auch und gerade Vielfalt der Kulturen widerspiegeln soll. Immaterielles und Europäisches Kulturerbe, materielles Natur- und Kulturerbe müssen dafür ein knappes und damit Aufsehen erregendes Gut bleiben. Eine zu hohe Zahl "amtlich bestätigten Erbes" würde zudem die wichtigen Kulturdenkmäler, die nicht in den Genuss einer solchen Auszeichnung gelangen, künftig schneller und fälschlicherweise in eine Bedeutungslosigkeit drängen.
Bezogen auf eine für mein Dafürhalten notwendige stärkere horizontale und vertikale Vernetzung des kulturellen Erbes ist es mir zudem ein Anliegen, dass vergebene Titel zunehmend als Verpflichtung und nicht primär als Ehrung wahrgenommen werden. Dies sollte sich auch in Förderprogrammen auf europäischer Ebene niederschlagen und entsprechende monetäre Anerkennung finden. Lassen Sie mich kurz erklären, was ich damit meine: Bei der horizontalen Verknüpfung sollte die Bedeutung eines bestimmten kulturellen Erbes verstärkt mit der Wirkung in die Region und im Zusammenhang mit anderen Erbestätten oder anderem immateriellen Erbe verdeutlicht werden. Häufig verleitet auch finanzieller Druck verständlicherweise dazu, die Erbestätten in ein besonderes Rampenlicht zu rücken. Dadurch wird die Gefahr erhöht, dass Anderes in den Schatten rückt oder Zusammenhänge weniger deutlich werden. Wenn Sie den Aachener Dom besucht haben, wissen Sie um dessen herausragende Bedeutung im Zusammenhang mit dem Reich Karls des Großen. Gut so. Wie vielen Besuchern aber wird der Bezug der Architektur zu Konstantinopel bewusst? Wie viele wissen, dass die Servatiuskirchen in Tongeren und Maastricht quasi Geschwister darstellen? Wie sah das Leben rund um Aachen zu Zeiten der Dom-Erbauung aus? An welchen Stellen kann ich mir selbst noch ein Bild davon machen? Welche Gemeinsamkeiten gab es zum Anfang des 8. Jahrhunderts im Leben der Menschen der heutigen Euregio Maas-Rhein? Welche Zusammenhänge gibt es von erlebbaren Kulturerbestätten mit immateriellem Kulturerbe? Durch diese Bezüge kann Interesse geweckt werden und wird Kultur zu einem Erlebnis. Kulturelles Erbe erhalten, bedeutet für mich zunehmend, Erbestätten nicht nur konservatorisch zu erhalten, sondern sie in einem solchem Bezugssystem zu verankern.
Vertikal muss der Vernetzung mit anderen Kulturprojekten und auch mit den weiteren Kulturprogrammen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene Vorschub geleistet werden. Neben der zwingend notwendigen Abgrenzung zwischen UNESCO-Weltkulturerbe und Europäischem Kulturerbesiegel müssen die Stätten dennoch in einen Bezug zueinander gebracht werden. Mehr noch: Die Pflege materiellen und kulturellen Erbes und dessen Nutzung für das gegenwärtige und künftige kreative Schaffen muss auch sowohl mit Programmen wie den Europäischen Jahren und der Europäischen Kulturhauptstadt als auch in Tourismus, Jugend und Bildung eine Verknüpfung finden. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, dass kulturelles Erbe nicht als etwas Folkloristisches von vorgestern mit einer zentimeterdicken Staubschicht drauf verstanden wird, sondern etwas Unverzichtbares im gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Leben darstellt.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Exkurs zur Ratifizierung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des immateriellen Kulturerbes. Soweit ich informiert bin, wird es hier in naher Zukunft nochmals in Deutschland einen Vorstoß des Bundestages geben, dass auch Deutschland diesem Abkommen beitritt. Das ist auch sinnvoll, denn ich denke, es gibt auch aus deutscher Kulturgeschichte heraus Praktiken, Darbietungen, Ausdrucksformen, Kenntnisse und Fähigkeiten, die einen Beitrag zum bisherigen immateriellen kulturellen Erbe der Menschheit geleistet haben. Ich mahne aber an, dass die zu erwartende Diskussion um einen Ratifizierungsprozess konstruktiv geführt wird. Nicht für eintragungswürdig in eine immaterielle Kulturerbeliste halte ich die unangenehme Angewohnheit, zunächst einmal die Möglichkeiten des Missbrauchs durch ökonomische, politische oder ideologische Interessen in den Vordergrund zu rücken und damit die gesamte Idee schlecht zu reden. Politiker, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sollten dazu übergehen, gemeinsam eine qualitätssichernde Methodik zur Erstellung von Bestandsaufnahmen des immateriellen Kulturerbes in Deutschland zu etablieren und zügig umzusetzen. Auch diesbezüglich halte ich es persönlich für angezeigt, hohe Standards anzulegen und die eben dargelegte Vernetzungsfunktion zur Geltung kommen zu lassen. Über beide Wege kann eine Stilisierung des Thüringer Kartoffelkloßes zu immateriellem Weltkulturerbe verhindert werden. Der zuletzt dargestellte Weg scheint mir dabei in jedem Fall der sinnvollere zu sein.
Lassen Sie uns also gemeinsam nach Wegen suchen, wie wir das Ererbte mit der Gegenwart und der Zukunft der Menschen verbinden können um die europäische Identität zu schaffen, die wir in Europa brauchen um Krisen, wie wir sie jetzt erleben, gemeinsam bestehen zu können und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, um uns nicht wieder in Abgrenzung und möglicherweise sogar Feindschaft zu ergehen. Jean Monnet wird der Satz zugeschrieben: "Wenn ich das Ganze der europäischen Einigung noch einmal zu machen hätte, würde ich nicht bei Kohle und Stahl, sondern bei der Kultur beginnen.“ Man weiss nicht so genau, ob Monnet diesen Satz jemals gesagt hat und wahrscheinlich wäre es auch naiv zu glauben, wir wären allein über die Kultur so weit gekommen, wie wir heute sind. Aber dennoch denke ich wir sollten bei der gemeinsamen und unendlichen vielfältigen Kultur in Europa weitermachen – ganz im Sinne des Leitspruchs der EU „In Vielfalt geeint“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf eine anregende Diskussion.