
Liebe Genossinnen und Genossen,
Verehrte Gäste,
Herzlichen Dank für die Gelegenheit, beim heutigen Politik-Treff das Impulsreferat halten zu dürfen. Wegen vielerlei Wahlkampfveranstaltungen tritt ein wichtiges historisches Ereignis, nämlich der 65. Geburtstag des Grundgesetzes an diesem Freitag, den 23. Mai, ein wenig in den Hintergrund. Dabei lohnt es sich durchaus, eine Brücke von unserer Verfassung nach Europa zu schlagen. Bereits im allerersten Satz der Präambel, die alles andere als pathetisches Vorgeplänkel ist, heißt es seit 1949: "…von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben". Es ist schon ein wenig in Vergessenheit geraten, dass der Wunsch "als gleichberechtigtes Glied", also als souveräner Staat, bereits 1949 in die Verfassung geschrieben wurde, dieser sich aber erst am 15. März 1991, mit Inkrafttreten des Zwei-plus-vier-Vertrages, verwirklicht hat.
"In einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" – Die letzten fünf Jahre im Zeichen einer Wirtschafts- und Finanzkrise und insbesondere die jüngsten Ereignisse in der Ukraine führen uns vor Augen, wie visionär der Satz bereits 1949 war. Er klingt leicht und pragmatisch und dennoch ist es tägliche harte Arbeit, ohne dass wir nach 65 Jahren sagen könnten, wir wären am Ziel. Und der Satz lässt Gestaltungsspielraum. Es ist bewusst offen gelassen, wo dieses vereinigte Europa seine Grenzen hat oder wie diese Vereinigung aussehen soll. Er enthält ganz bewusst eine friedensstiftende Balance: Er hält es für möglich, dass sich das deutsche Volk einem größeren Ganzen anschließt, ohne darin vollständig aufzugehen oder sich gar aufzulösen. All die heute so heiß diskutierten Stichworte Frieden, soziale Gerechtigkeit, Toleranz, Erweiterung und Integration schwingen beim Lesen dieses Satzes mit.
Unmittelbar vor der Europawahl bleiben dennoch viele Fragen offen: Was ist der richtige Ordnungsrahmen für Europa? Reicht eine Währungsunion oder müssen wir uns stärker zu einer Fiskalunion entwickeln? Droht dem Projekt Europa Gefahr von Populisten und Nationalisten? Die Fragen sind Aufreger. Umso wichtiger ist es mit einer klaren Vorstellung davon, wohin man will, unaufgeregt einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Wir haben als SPD in dem Wahlkampf klar gemacht was wir wollen. Unser Wahlprogramm hieß nicht aus Spaß "Europa eine Richtung geben". Im Gegensatz zur CDU, die einen diffusen Wahlkampf veranstaltet nach dem Motto "Mutti Merkel wird es schon irgendwie richten".
Wir wollen, dass Europa die treibende Kraft für eine neue Ordnung der Finanzmärkte ist, die diese auf ihre dienende Funktion gegenüber der Gesellschaft und der realen Wirtschaft zurückführt. Wir wollen, dass ein starkes Europäisches Parlament, mit eigenem Initiativrecht und stärkeren Rechten in der Haushaltspolitik ein angemessenes Gegengewicht zur Kommission und zur Regierungszusammenarbeit im Rat darstellt. Wenn man überhaupt an der Troika festhält, wollen wir sie zumindest der parlamentarischen Kontrolle des Europäischen Parlaments unterstellen. Wir wollen Steuergerechtigkeit und auf europäischer Ebene gegen Steueroasen und Steuerbetrug vorgehen. Wir wollen den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit zur Priorität der europäischen Politik machen. Neben Investitionen müssen dafür europaweit strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft aber auch in den Bildungssystemen, vor allem hinsichtlich der Übergänge zu Hochschulen und zur Arbeitswelt, angetrieben werden. Wir wollen gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für die gleiche Arbeit, egal an welchem Ort und egal ob Mann oder Frau sie leisten. Deshalb braucht es einen europäischen Pakt für Mindestlöhne. Tarifautonomie sollte im europäischen Recht verankert werden. Und ich kämpfe für einen starken Datenschutz, für ein freies und offenes Internet, vielfältige Medien und eine starke Kreativwirtschaft.
Um dies zu verwirklichen, brauchen wir ein starkes Europäisches Parlament. Jeder der glaubt, er könne Missstände in Europa dadurch vermeiden, dass er nicht wählen geht, irrt. Jeder, der bei den ersten fünf auf dem Europawahlstimmzettel gelisteten Parteien sein Kreuz machen würde, sollte unbedingt wählen gehen. Nur mit hoher Wahlbeteiligung halten wir lärmende und radikale Stimme in Splitterparteien aus dem Europaparlament. Da in Deutschland 96 Parlamentarier gewählt werden, besteht ohne gesetzliche Sperrklausel nun eine faktische von knapp über einem Prozent – aber nur der abgegebenen Stimmen. Je mehr Menschen wählen gehen, umso mehr Wählerinnen und Wähler in absoluten Zahlen muss dann jeder auf sich vereinigen – das gilt für klein wie für groß.
Ein starkes Europaparlament kann vieles erreichen. Einige Beispiele: Wir haben ACTA verhindert, wegen des Parlaments gibt es bis heute keine EUweite Regelung von Netzsperren im Internet, eine zu bürokratische Bodenschutzrichtlinie wurde zurückgewiesen, Agrarsubventionen nehmen ökologische Aspekte stärker in den Blick. Und ich bin davon überzeugt, dass ein starkes Parlament auch in der Lage ist, ein Freihandelsabkommen abzulehnen, sollte der irgendwann vorgelegte Text unsere roten Linien missachten und Passagen enthalten, die die Menschen in Europa schlicht nicht wollen. Bei all den genannten beschlossenen Sachverhalten waren die Mehrheiten übrigens äußerst knapp.
Leider wollte das Bundesverfassungsgericht die Notwendigkeit eines starken Europäischen Parlaments nicht anerkennen. Politisch ist die Aufhebung der 3% Hürde jedenfalls zu bedauern. Es entsteht durch die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts der Eindruck, das Europäische Parlament könne kein „echtes“ Parlament sein, weil es keines sein darf. Denn keine andere Botschaft ist in der Argumentation des Gerichts enthalten, wenn es heißt, es bedürfe keiner Sperrklausel, die Stellung, Funktion und Legitimation des Europäischen Parlaments unterstütze, weil das Europäische Parlament nach Stellung, Funktion und Legitimation eine solche nicht rechtfertigen könne. Dass das Bundesverfassungsgericht selbst das Entstehen eines funktionsfähigen Parlaments nicht fördert, sondern behindert, indem es eine Sperrklausel nicht zulässt – auf diesen Gedanken sind die Richter leider nicht gekommen. Ebenso wurde die Möglichkeit einer wirksameren Vertretung der deutschen Interessen im Europäischen Parlament mit Hilfe der Sperrklausel nicht gesehen. Es bleibt abzuwarten, wie viele Abgeordnete kleiner Parteien ohne Drei-Prozent-Hürde zusätzlich in das Parlament einziehen und inwieweit diese dort dann in die Fraktionen integriert werden oder nicht. Jedenfalls werden es mehr sein als zuvor. Die meisten Fraktionslosen jedenfalls stehen in einer Sackgasse, weil es für sie enorm schwierig sein wird, beispielsweise 40 Unterstützer für einen Antrag zu vereinen, die formal erforderlich sind um ihn überhaupt ins Parlament einbringen zu können. Wenn die Anzahl deutscher Abgeordneter mit 96 gedeckelt ist und unter ihnen sagen wir mal vier Fraktionslose sind, die strukturell so gut wie nichts machen können, verlagert sich die tatsächliche Einflussmöglichkeit auf die verbleibenden 92 – und schwächt damit auch den deutschen Einfluss ganz real.
Was bleibt denen, die Aufmerksamkeit zum politischen Überleben brauchen, wenn sie wegen offensichtlich fehlender Mehrheiten oder unerreichbarer Mindestquoren parlamentarisch kaum was erreichen können? Sie müssen laut sein – die mediale Aufmerksamkeit erreicht man am ehesten durch ausgefallene, teilweise radikale Äußerungen. Weil man sicher weiß, dass man selbst nichts politisch verantworten muss, kann man wider besseren Wissen Dinge vorschlagen, die sich nicht realisieren lassen. Es ist auch einfach aber leider häufig populär gegen alles zu sein. Politik aber soll Sachfragen klären – dazu muss man sich ihnen stellen.
Das Laute und Unrealistische ist aber Gift für jedes Parlament. Im Gegensatz zu vielen nationalen Parlamenten arbeiten wir mit wechselnden Mehrheiten. Für jede Sachfrage muss neue eine Mehrheit ausverhandelt werden. Die Politik innerhalb des Parlaments ist traditionell geprägt von Verständigung und Konsens zwischen den politischen Gruppierungen. Dabei besitzen die vier größten politischen Gruppen, Europäische Volkspartei, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne, einen unumstößlichen pro-europäischen Grundkonsens. Laute und radikale Stimmen sind das beste Mittel um diese Form der Zusammenarbeit zu stören. In der zurückliegenden Wahlperiode habe ich einmal erlebt, dass ein Abgeordneter der Fraktion der "Europäischen Konservativen und Reformisten" einen Bericht verfasst hat, der nationalistisch und revisionistisch geprägt war. Abgeordnete der genannten vier Gruppen, auch ich, haben mittels Änderungsvorschlägen quasi den ganzen Bericht umgeschrieben und damit schon angezeigt, dass seine Vorschläge keine Mehrheit bekommen werden. Er war unbelehrbar. Der Ausschuss hat seinen Bericht abgelehnt. Gut so. Aber Arbeit und Zeit, die man investiert hat, um den Versuch zu unternehmen, etwas zum Guten zu wenden vom dem dann klar wurde, dass es nicht gut werden kann. Dann eine Mehrheit für eine Ablehnung zu organisieren, das hat viel Zeit gekostet, die man gern für Sinnvolleres verwendet hätte. Solche Arbeiten sind notwendig aber immer ärgerlich.
Es ist leichtsinnig, am 25. Mai den kurzen Gang in die Wahlkabine, oder vorab die bequeme Briefwahl zu scheuen oder gar die Wahl zu nutzen, um es den etablierten Parteien mal so richtig zu zeigen. Wir dürfen in Europa das Feld nicht den Rechtspopulisten und Nationalisten überlassen. Es bedarf kluger politischer Entscheidungen und Weichenstellungen und einer starken europäischem Sozialdemokratie, um diese Gefahr, die von Nationalisten und Rechtspopulisten ausgeht, zu bannen und am gemeinsamen europäischen Haus für eine gute Zukunft aller weiter zubauen. Das heißt aber auch, wir müssen die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen und aufzeigen, wie unsere Alternative aussieht.
Im vergangenen Jahr gab es vor dem Europäischen Parlament in Brüssel eine kleine Ausstellung. Sie zeigte Bilder aus der Geschichte Europas: Das Konzentrationslager in Auschwitz, Zerstörte Städte in Europa, Flüchtlingstrecks, die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn, Bürgerkrieg in Jugoslawien, aber auch Rosinenbomber über Berlin, der Kniefall Willy Brandts 1971 in Warschau und der Fall der Berliner Mauer um nur einige Szenen zu nennen.
Es sind Stationen aus der wechselvollen Geschichte unseres Europas. Sie zeigen welche Grausamkeiten Menschen in Europa Menschen angetan haben, sie zeigen aber auch Zeichen der Hoffnung, der Reue für die Taten der Väter und Mütter und sie zeigen wie Europa Stück für Stück immer weiter zusammengewachsen ist, wie aus den Feinden von früher Freunde geworden sind und was wir durch die europäische Einigung überwunden und erreicht haben.
Bei allen Problemen, mit denen wir heute in Europa zu kämpfen haben, machen diese Bilder einmal mehr eindringlich klar, was wir in den vergangenen knapp 70 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht haben und sie machen deutlich, dass wir die Erfolge, die wir auf diesem langen Weg erreicht haben nicht klein reden sollten, sondern durchaus auch ein wenig stolz sein können. Die Bilder führen uns auch deutlich vor Augen, dass Frieden und Demokratie nicht selbstverständlich sind und dass man immer wieder darum kämpfen muss.
Frieden durch Zusammenarbeit und Verständigung – das ist der europäische Weg. Die SPD hat eine lange Tradition als Friedenspartei. Unsere Friedenspolitik hat immer auf Frieden durch Verständigung und Zusammenarbeit gesetzt. Wir wollen keine neue Spaltung Europas. Wir wollen keine neue Konfrontation. Deshalb muss es auch bei der Ukraine eine diplomatische Lösung geben. Die OSZE muss im Zentrum einer Verhandlungslösung stehen. Die europäische Nachbarschafts- und Assoziierungspolitik muss gestärkt und weiterentwickelt werden. Die EU muss in ihrer Nachbarschafts- und Assoziierungspolitik noch stärker den Dialog mit den Staaten der Region suchen. Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung lassen sich auf dem europäischen Kontinent nicht gegeneinander, sondern nur miteinander schaffen. Und – auch das sage ich in aller Deutlichkeit: Frieden und Stabilität in Europa wird es nur mit Russland und nicht gegen Russland geben können. Ziel muss es sein, Interessenkonflikte zu entschärfen, nicht zu vertiefen. Dazu brauchen wir eine neue politische Agenda für Frieden, Verständigung und Zusammenarbeit in Europa für die kommenden Jahre. 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges, 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, 25 Jahre nach Ende der Blockkonfrontation muss gelten: Nie wieder Krieg in Europa!
Wir brauchen Lösungen, die sich auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten gemeinsam „stemmen“ lassen. Wir brauchen eine Sparpolitik zur Konsolidierung der Haushalte, um neue Spielräume zu erhalten und zugleich brauchen wir einen Wachstumspakt, damit wir aus dem Kreislauf von alleinigem Sparen und Jobvernichtung herauskommen.
Aber – auch das sage ich in aller Deutlichkeit: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Ja, die Starken sollen den Schwachen helfen, aber die Staaten die besonders schlimm von der Krise getroffen sind, auch weil sie in der Vergangenheit selbst Fehler gemacht haben, müssen ihren Beitrag leisten, den Karren wieder flott zu bekommen. Wir müssen gemeinsam darauf achten, dass dies sozial gerecht und ausgewogen gelingt.
Aber Sprüche wie „wir verbitten uns die Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten“ von der einen Seite oder „wir helfen, aber nur zu unseren Bedingungen“ bringen uns nicht weiter.
Das ‚Wir‘ wird entscheiden, ob wir als Kontinent gestärkt aus dieser Krise hervor gehen werden. Und gestärkt heißt für mich vor allem eines: als ein soziales Europa.
Das ‚Wir‘ entscheidet, ob es uns gelingt, die Arbeitslosigkeit in Europa zu bekämpfen, insbesondere im Süden Europas und bei den jungen Menschen.
Es entscheidet, ob wir es als politische Union hinbekommen, die Kluft zwischen Reich und Arm zu schließen.
Und es entscheidet, ob ‚Wir‘ wieder zudem zurückfinden, wofür ‚Wir‘ stehen: Für eine Gesellschaft, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt, die Profite nicht bei wenigen Einzelnen belässt während Verluste bei der Gesellschaft abgeladen werden.
Damit Bankenkrisen in Zukunft nicht mehr die Steuerzahler belasten, haben wir den Weg für eine Bankenunion, also eine gemeinsame Bankenaufsicht und eine gemeinsame Abwicklungsbehörde, frei gemacht. Und wir müssen konsequenter auf die Einhaltung der Stabilitäts- und Wachstumskriterien (Schuldenquote unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Haushaltsdefizit unter 3 Prozent) achten. Nur drei Länder halten die Defizitkriterien ein, Deutschland übrigens zuletzt auch nicht.
Liebe Genossinnen und Genossen,
Klimaschutz, nachhaltiges Wirtschaften, sozialer Zusammenhalt und gemeinsame Sicherheit – all dies verlangt nach Gemeinschaftslösungen. Wir brauchen deshalb endlich eine gemeinsame Europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik, die flankiert wird von einer gemeinsamen europäischen Sozialpolitik und die vor allen legitimiert wird durch eine starke parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente.
Es lässt mich nicht kalt, welche tiefen Einschnitte Wirtschafts- und Finanzkrise vor allem in den Biografien junger Menschen hinterlässt. Wenn in manchen Regionen jeder zweite Jugendliche ohne Arbeit ist, dann ist das weit mehr als ein wirtschaftliches Problem. Es nagt am Selbstwertgefühl jedes Einzelnen. Es nagt an den Grundfesten unserer Gesellschaft und unserer Demokratie.
Eine Generation ohne Perspektive und Hoffnung wird Europa nicht mehr als Weg hin zu Wohlstand und Fortschritt betrachten, sondern als ein Symbol für Unsicherheit und Fremdbestimmung.
Die Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit ist die dringendste aller Aufgaben. Bessere Bildungschancen, bessere berufliche Bildung, rasche Investitionen aus dem Wachstumspakt und aus Projekten der Europäischen Investitionsbank müssen jetzt ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Europas junge Generation braucht eine Perspektive und muss unsere Unterstützung spüren.
Soziale Gerechtigkeit ist die wichtigste Voraussetzung für den sozialen Frieden in Europa. Der Schlüssel hierzu liegt in gleichen Bildungs- und Aufstiegschancen.
Liebe Genossinnnen und Genossen,
Die großen Herausforderungen und Probleme, aber auch Chancen und neue Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung zeigen sich in unseren Kommunen wie in einem Brennglas. Ob es ökonomische Umbrüche einer globalisierten Wirtschaft, Auswirkungen des demographischen Wandels oder Klimaveränderungen sind: Sie werden in den Kommunen sichtbar.
Die Kommunen bilden das Fundament unserer europäischen Gesellschaft, sie führen die verschiedenen Funktionen von Wohnen, Arbeiten, Handel, Bildung, Kultur und Freizeit zusammen. Sie sind die Kraftzentren unserer Regionen und der Motor des wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritts. Daher müssen auch die schwächeren Regionen über handlungsfähige Kommunen verfügen, um ihrem Daseinsvorsorgeauftrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse nachkommen zu können.
Die Förderung strukturschwacher Stadtteile sowie ländlicher Gebiete durch die europäischen Strukturfonds stellen deshalb einen wichtigen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt Europas dar. Bürgerinnen und Bürger aus strukturschwachen Regionen dürfen gegenüber Menschen aus prosperierenden Regionen nicht ins Hintertreffen geraten. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und zwingende Voraussetzung für Wohlstand und Fortschritt in einem sozialen Europa.
Mittlerweile stellen die verschiedenen Fonds der Regionalpolitik einen der größten Einzelposten im gesamten EU-Haushalt dar. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet dies, dass europäische Mittel direkt zur Verbesserung ihres unmittelbaren Lebensumfelds eingesetzt werden – im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, genauso wie in der Infrastruktur und im Tourismus. Dabei ersetzt die Regionalförderung nicht die Investitionen von Bund, Ländern und Kommunen, sondern schließt vielmehr Lücken und setzt Akzente, wo dies notwendig und sinnvoll erscheint. Wir in NRW wissen wovon wir reden: ohne die Mittel aus den Europäischen Fonds hätten wir den Strukturwandel auch hier im Kreis Mettmann nicht gestemmt bekommen.
Wir wollen eine Politik für Europa, die nur das regelt, was nicht lokal, regional oder national besser geregelt werden kann. Dort aber, wo es auf europäische Antworten ankommt, brauchen wir ein Europa, das handlungsfähig ist. Im Vertrag von Lissabon findet sich ein deutliches Bekenntnis zur kommunalen Selbstverwaltung und zum Subsidiaritätsprinzip. Dies darf jedoch kein Lippenbekenntnis bleiben. Die Kommunen müssen selbst entscheiden können, wie sie das unmittelbare Lebensumfeld ihrer Bürger gestalten. Dabei darf die Europäische Union nicht im Weg stehen, sondern muss helfen und Freiräume schaffen. Die europäische Gesetzgebung muss sicherstellen, dass die Städte, Gemeinden und Kreise nicht durch zusätzlichen Verwaltungsaufwand eingeengt oder finanziell übermäßig belastet werden. Wir brauchen nach meiner festen Überzeugung eine neue Debatte darüber, was wir auf europäischer Ebene regeln müssen und was wir getrost den Mitgliedsstaaten, den Ländern oder den Kommunen überlassen können. Das würde auch das Vertrauen in das europäische Projekt erheblich stärken.
Zum Vertrauen gehört auch, dass transparent ist, worum es geht. Seit diesen Montag wird in den USA zum fünften Mal über das Freihandelsabkommen verhandelt. Hinter verschlossenen Türen, ohne Parlamentarier am Verhandlungstisch. Das ist ein Unding. Für uns als Sozialdemokraten ist klar: Wir werden keinem Abkommen zustimmen, dass mit Investitionsschutzklauseln und Schiedsgerichten die europäische Rechtsordnung untergräbt. Die strenge Geheimhaltung schürt die Ängste der Bürgerinnen und Bürger und sollte deshalb sofort beendet werden. Als Medienpolitikerin verlange ich umfassende Ausnahme medialer und kultureller Güter und Dienstleistungen aus dem Abkommen, weil deren Finanzierung und Herstellung in Europa und den USA völlig verschieden sind. Kultur und Medien sollten eine öffentliche Angelegenheit in Europa bleiben.
Ein weiterer Punkt, der mir als Medienpolitikerin besonders wichtig ist: Demokratie, Frieden und Toleranz brauchen eine informierte und vielfältige Öffentlichkeit. Freie und plurale Medien stellen einen entscheidenden Faktor dar. Sie ermöglichen Aufklärung, Meinungsbildung, politische Beteiligung und Machtkontrolle. Zu den zentralen Fragen der nächsten Jahre in der Medienpolitik gehört die Sicherstellung und Wahrung der Medien- und Pressefreiheit und der Medienvielfalt. Wie wichtig die neuen Medien in unserer vernetzen Gesellschaft sind, hat uns die Rolle der neuen Medien im Arabischen Frühling aber auch in der Türkei deutlich vor Augen geführt. Eine unabhängige und kritische Presse- und Medienlandschaft ist notwendig, um die Finger immer wieder in die Wunde zu legen und um die Dinge aufzudecken, die auch in funktionierenden Demokratien in die falsche Richtung laufen – Stichwort NSA-Skandal. Wir konnten gerade im Parlament einen Teilerfolg feiern mit einer Entscheidung, Netzneutralität gesetzlich zu verankern. Auch bin ich froh über das meines Erachtens kluge Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung
In dubio pro libertate – „Im Zweifel für die Freiheit“: Dieser Satz stammt aus einer römischen Gesetzessammlung aus dem Jahre 533. Der Grundsatz bestimmte, dass im Falle einer nicht zweifelsfrei verfügten Freilassung eines Sklaven dieser als frei zu gelten habe. Heute ist es ein Grundsatz demokratischer Staaten, nach dem im Zweifel zugunsten freier Grundrechtsausübung entschieden werden soll. Rückblickend auf die ersten fünf Jahre als Europaabgeordnete bin ich doch überrascht, wie häufig und mit welcher Vehemenz man, gerade in Zusammenhang mit Medien und Internet man für diesen Grundsatz kämpfen muss. Hieraus schöpfe ich aber auch die Kraft weiter zu machen: Wenn der Staat nach Medien greift, sei es in Ungarn, der Türkei oder Russland oder Medienimperien entstehen, die kleinere, für die Medienvielfalt wichtige Unternehmen wirtschaftlich in Not bringen, wie in Deutschland oder Italien oder Mediengiganten versuchen, der Medienpolitik ihre Vorstellungen von rechtlichen Rahmenbedingungen aufzuzwingen, braucht es Stimmen, die sich gegen ein solches handeln stemmen.
Das alles hat ganz entscheidend etwas mit der Frage zu tun, wie wir in Europa zukünftig zusammenleben wollen; ob wir eine Kultur der Kontrolle aller Lebensbereiche etablieren möchten, den Schutz von Intimität und den Schutz der Persönlichkeit herabsetzen, Informations- und Kommunikationsfreiheit aufs Spiel setzen, nur um vermeintlich die Sicherheit eines jeden Einzelnen zu steigern oder ob wir am Ideal des gegenseitigen Vertrauens und des Respekts festhalten wollen.
Wollen wir international weiter auf aufklärerische Werte wie Vertrauen, Respekt, Toleranz und Solidarität setzen oder ein System des Misstrauens, des gegenseitigen Überwachens, des persönlichen wie einzelstaatlichen Konkurrenzdenkens etablieren?
Dies ist der Scheideweg, an dem wir in Europa gerade stehen und der ganz erheblich das alltägliche Zusammenleben aller Menschen in der EU bestimmen wird. Ich möchte mit meiner Arbeit im EP auch zukünftig dazu beitragen, dass wir den richtigen Weg einschlagen, nämlich den der in so untrennbarer Weise die Werte der Aufklärung verbindet mit denen der alten Tante SPD: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Vielerlei Gründe werden genannt warum diese Europawahl die bedeutendste und spannendste seit je ist. Die Europa-Wahl als demokratischster Prozess einer politischen Willensbildung auf europäischer Ebene schlecht hin läuft aber auch Gefahr missbraucht zu werden von jenen, die der Europäischen Union gleichzeitig den Vorwurf eines Demokratiedefizites anzulasten versuchen.
Europa muss seinen erfolgreichen Weg des Dialoges, der Verständigung und Zusammenarbeit fortsetzen. Die europäische Geschichte zeigt: Nur so kann die Grundlage dafür geschaffen werden, dass sich die Staaten Europas im Interesse ihrer jeweiligen Bevölkerungen wirtschaftlich, sozial und kulturell friedlich entwickeln können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Glück auf!