Verkehrte Netzwelt

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Es war einmal 1994: Die Bundespost wurde aufgelöst und der neu geschaffenen privaten Aktiengesellschaft Deutsche Telekom wird als Starthilfe ein aus Steuergeldern aufgebautes Telefon-, Glasfaser- und Kabelnetz mehr oder weniger geschenkt. 1999 geht das Kabelnetz an die Kabel Deutschland, deren Hauptaktionär ist heute Vodafone. 1995 war das Internet schon in seiner Grundstruktur bereits entwickelt. Voraussagen, man bräuchte leistungsstärkere, moderne oder breitbandigere Netze für enorm steigende Datenübertragungsraten sind seit dieser Zeit ohne Weiteres mit wissenschaftlichen Quellen belegbar. Der Endkunde freute sich über immer günstiger werdende Flatrate-Angebote im rundum-sorglos Format: Internet, TV und Telefon in einem. Billiger war nur möglich, indem man auf Kosten der Substanz lebte – also zumindest nicht in der Geschwindigkeit und Größenordnung in den Netzausbau investierte, wie es auf Grund belastbarer Vorhersagen notwendig gewesen wäre. Brauchte man auch nicht, da man eins sicher wusste: Man schafft bewusst einen Mangel an etwas, was früher oder später jeder haben will, nahezu egal um welchen Preis und sei es um den Preis der Freiheit. Das ist der Punkt, an dem wir heute stehen.

Bemerkenswert ist, dass diese Geschichte auf alle aktuell in Deutschland laufenden Debatten über Netze aller Art übertragbar ist: Ein streckenweises marodes Straßennetz soll mit einer Maut aufpoliert werden, die Deutsche Bahn AG drängt regelmäßig auf einen öffentlich finanzierten Netzausbau, unser Stromnetz kann die Herausforderungen der Energiewende nicht bewältigen. Kfz-Steuern werden brav bezahlt, es gibt eine LKW-Maut auf Autobahnen, Bahn- und Strompreise sind alles andere als im Sinkflug – aber nie reicht es für ein stabiles, leistungsfähiges Netz. Komisch. Manager beklagen sich in gewohnter Regelmäßigkeit, dass ihr Netz nicht ausreiche um anstehende Aufgaben zu erfüllen. Im gleichen Atemzug rechnen sie uns Politikern sehr genau vor, woran es fehle. Baue man nicht in den errechneten Parametern unter Zuhilfenahme öffentlicher Gelder sofort aus, drohe Ungemach, da wir sonst schon sehr bald in der Regel von asiatischen Märkten überrollt werden würden. Die Frage warum man nicht vorausschauend mittels der eigenen Unternehmenspolitik rechtzeitig darauf reagiert und Vorsorge getroffen habe, wenn man dies alles so genau wisse, wird nicht gestellt.
Konzentrieren wir uns aber weiter auf das Internet. Vergangenen Donnerstag verkündete die Bundeskanzlerin auf einer Vodafone Veranstaltung (!), die Bundesregierung habe nun eine Position gefunden, wie Deutschland in Brüssel die Verordnung zum Digitalen Binnenmarkt weiter verhandeln wolle. Diese Verordnung soll grundlegende Fragen der Netzinfrastruktur EU-weit einheitlich regeln. Mit ihr könnte eine gesetzliche Absicherung der Netzneutralität, also der Gleichbehandlung aller Daten bei der Weiterleitung in Netz, europaweit verankert werden, wenn man es denn politisch will. Seit Monaten gibt es einen erbitterten Streit um die Frage, in welchem Verhältnis Netzneutralität zu sogenannten Spezialdiensten steht. Dabei behauptet nahezu jeder, dass selbstverständlich Netzneutralität wichtig sei und grundsätzlich erhalten bleiben solle.

Die Tücke liegt in dem kleinen Wort „grundsätzlich“, denn das lässt Ausnahmen von der Regel zu bzw. die Ausnahme wird zur Regel. Und diese Ausnahmen sind dann die Spezialdienste, die, so die Argumentation, notwendig seien um private Investitionen in dringend benötigte, superschnelle Netze zumindest in Ansätzen refinanzieren zu können. Inhalt des Kompromisses, den die Kanzlerin jetzt offenbar anbietet, ist, man will beides: Ein offenes Netz für alle und irgendwie auch Spezialdienste. Wie das konzeptionell gehen soll, bleibt im Unklaren. Wortreich wird versucht alles zu vermeiden, sich der Etablierung eines "Zwei-Klassen-Internets" schuldig zu machen. Was sonst aber soll das sein? Ein bisschen Netzneutralität geht genauso wenig wie ein bisschen schwanger zu sein.
Bemerkenswert ist ein Satz Frau Merkels: "Wir brauchen uns über Netzneutralität nicht zu unterhalten, wenn die Kapazitäten nicht zur Verfügung stehen." Das war kein Versprecher, hier wurden nicht die Worte "Netzneutralität" und "Spezialdienste" aus Versehen vertauscht. Der Satz ist hochgradig gefährlich, weil er die Idee der Netzneutralität rhetorisch geschickt in das Gegenteil verkehrt: Anstatt Spezialdienste erst dann zuzulassen, wenn sichergestellt ist, dass hierfür die Kapazitäten ausreichen, behauptet die Kanzlerin, dass die Kapazität nicht ausreicht um die Netzneutralität zu gewährleisten. Das genau ist die Argumentation der Zugangsnetzbetreiber, also derjenigen Telekommunikationsunternehmen, die die einleitende Geschichte initiiert und befeuert haben.
Netzneutralität ist keine linke Spinnerei. Sie ist der Ausdruck des Gemeinwohl-Interesses in digitalen Kommunikationsnetzen: Sie setzt die verfassungsrechtliche Leitvorstellung von Freiheit und Gleichheit im Internet um. Nicht mehr und nicht weniger. Sie lässt sich schlicht definieren: Alle Daten werden unabhängig von ihrem Inhalt, Verwendungszweck, Empfänger und ihrer Herkunft in der Reihenfolge ihres Eintreffens weitergeleitet. Mit dieser schlichten Regel soll ein möglichst gleichberechtigter Zugang aller Menschen zu Inhalten und Diensten des Netzes und zu Informationen insgesamt gesichert werden. Es geht um Infomations- und Kommunikationsfreiheit und um die prinzipielle Möglichkeit der Teilhabe aller an Information und Kommunikation. Die leichtfertige Etablierung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses kann daher in keinem Fall akzeptiert werden. Jede noch so kleine Abweichung vom Prinzip der Netzneutralität verschafft einer Seite einen Vorteil über eine "Information", die diese dann gegen Entgelt managt – und genau das ist das Gold der Informationsgesellschaft!

Es sei deutlich gesagt: Ich bin nicht gegen Spezialdienste, aber sie müssen strikten Konditionen unterworfen sein, die allesamt dem Ziel dienen, die Offenheit und Freiheit des Internets nicht zu stören. Das Europäische Parlament hat in Abänderung des Verordnungsvorschlages der Kommission solche klaren Regeln mit großer Mehrheit beschlossen. Dazu gehört auch, dass ausreichend Netzkapazitäten vorhanden sein müssen und die Inhalte eines Spezialdienstes nicht funktional identisch sein dürfen mit dem offenen Internet und nicht als Ersatz zu diesen Angeboten vermarktet werden. So soll verhindert werden, dass Spezialdienste zu einem Zwei-Klassen-Internet führen und das Internet, wie wir es kennen zu einer Art Resterampe verkommt. Es muss also gute Gründe für Spezialangebote geben, und zwar so gute, die es rechtfertigen, die Idee der Freiheit und Gleichheit im Netz ausnahmsweise zu durchbrechen. Das Spiel spielen die Netzbetreiber mit, in dem sie nun das Netz selbst und dessen Zustand zum Grund für Spezialdienste erklären – hier zahlt sich der bewusst geschaffene Mangel aus. Aber das ist alles andere als ein guter Grund und deckt sich in keiner Weise mit den Vorstellungen des Europäischen Parlaments. Folgt man der Argumentation, wie es die Kanzlerin offensichtlich tut, erkauft man sich letztlich schnelles Internet um den Preis der Abschaffung der Netzneutralität und damit der Aufgabe grundlegender Freiheitsrechte.
Reicht das Netz selbst als Argument nicht, schmeißt man noch Gesundheit ("e-health") als Grund für Spezialdienste hinterher. Ärgerlich ist, dass die Argumente der Lobby vielerorts unreflektiert nachgeplappert werden. Wer bitte möchte sich via e-health aus einem offenen Netz operieren lassen? Die Frage kann man stellen, aber schon heute findet e-health in zumindest virtuell getrennten, komplett nur dafür vorgesehenen Netzen statt, die ja nicht jeden einzelnen Hausanschluss betreffen. Ein Scheinargument also, das mit der hier geführten Debatte nichts zu tun hat. Neuestes Argument für Spezialdienste: Datenübertragung – oder eher doch Datenkontrolle – beim Autofahren – schließlich wird die Debatte vor allem in Deutschland geführt.

Auf die Frage, was denn ein Spezialdienst sein könnte, wird immer wieder gern auf Unterhaltungsangebote und IPTV verwiesen. Sobald man allerdings erlaubt, Unterhaltungsangebote in Spezialdiensten zu vermarkten, ist dies das Ende des offenen Internets, egal, wie viele Sicherungen man an Mindest-Übertragungsraten einbaut. Um zu verstehen, warum gerade Spezialdienste mit Unterhaltungsangeboten so attraktiv und vor allem lukrativ erscheinen, muss man das Marktverhalten der Unternehmen und die Verträge mit den Endkunden in den Blick nehmen: Der Trend geht zum "vertikal integrierten Unternehmen": Je weniger ein Unternehmen von Dritten beziehen muss desto mehr bleibt von der Wertschöpfung bei ihm. Es ist wirtschaftlich also sinnvoll, nicht nur Transporteur der Inhalte zu sein, sondern selbst Inhalteanbieter zu werden. Dafür ist es aus der Sicht des Kunden nicht einmal notwendig, als Netzbetreiber selbst originär den Inhalt zu produzieren, so lange er ohne weitere Kosten einen Mehrwert bietet (siehe Telekom und Spotify). Für die Kunden ist es letztlich egal, wer Koch und wer Kellner ist, wer also nur Lieferant und wer Produzent ist, er muss nur bereit sein, für eine Überholspur im Internet mit speziell zusammengeschnürten Inhaltepaketen extra zu bezahlen.

Aber der originäre Inhalt hat ein immer größer werdendes Problem. Nehmen wir das Lied einer neuen Band, wobei das Beispiel beliebig ersetzbar ist z.B. eine neue Suchmaschine, ein neuer Kartenanbieter, neue Streamingdienste oder was auch immer als neues, bisher nicht gedachtes Angebot in Zukunft noch entwickelt werden wird.
Wie dringt also dieses Lied der neuen Band in das Ohr möglichst vieler? Die Folgen für die Produzenten von Inhalten werden bei der gesamten Diskussion vernachlässigt! Aus deren Sicht nämlich stellt sich der "vertikal integrierte" Netzbetreiber als Monopolist dar. Möchte die Band seinen Auspielweg nutzen um darüber Zuhörer für das neue Lied zu erreichen, wird der Netzbetreiber vorgeben, zu welchen Bedingungen, dies erfolgt. Anderenfalls hören seine Kunden das Lied eben nicht. Der Vergleich damit, dass Ihnen Ihr Obst- und Gemüsehändler vorschreibt, was bei Ihnen zu Hause auf den Tisch kommt (und das wird in Deutschland bekanntlich brav gegessen!) mag grobschlächtig sein. Falsch ist er dennoch nicht. Gedanklich kann er sogar soweit gesponnen werden, dass der Obsthändler vom Obstbauern noch Geld dafür verlangt, dass das Obst den Kunden erreicht. Wir ahnen alle, wie schnell es dann kein Obst mehr gäbe. Und genau deshalb warnen die Direktoren der deutschen Landesmedienanstalten eindringlich vor der Einbeziehung audiovisueller Angebote in Spezialdienste. Der Kunde wird alles andere als widerstehenden und sehr schnell können sich dann Machtverhältnisse im gesamten Bereich der audiovisuellen Angebote verschieben. Mit Sicherheit würde dies zu einem Verlust an Medienvielfalt führen: Kleineren Inhalteanbietern wird schon jetzt prophezeit auf diesem Markt kaum noch Chancen zu haben. Man wird dann zwar vielleicht noch gut unterhalten, aber eine Aufnahme in einen Spezialdienst können sich allenfalls noch die Global Player leisten und Chancengleichheit im Netz wäre allenfalls noch ein blasse Erinnerung aus den Anfängen des Internets. Für große Teile der in Deutschland aufstrebenden und sich als krisenfest erweisenden Kreativindustrie wäre das vermutlich der Tod. Die Branche lebt nicht unwesentlich von der Idee des "try and error" – weil man es sich unter Zuhilfenahme des Internets und der Idee der Netzneutralität erlauben kann, auszuprobieren, was potenziellen Konsumenten gefallen könnte und die Kosten für das Erreichen des Publikums niedrig sind. Hier entsteht der "neue Wein", das wirklich Kreative. Das Ausprobieren ist die Quelle für alle Stoffe, die später professionalisiert und schließlich massenhaft kommerzialisiert werden. Wie bitte soll dieser Markt unter solchen Bedingungen weiter florieren? Wer wagt noch Risiko?
Unbestritten werden die Dienste innerhalb eines Spezialdienstes gemanagt. Wir müssen uns auch im Klaren sein was dies bedeutet: Die Vertraulichkeit der Kommunikation dürfte in einem Spezialdienst nicht zu gewährleisten sein, außer man würde innerhalb dieser Dienste die Netzneutralität ausnahmslos gelten lassen. Wer aber eine durchgängige Qualität in der Datenübertragung garantieren möchte, muss den gesamten anfallenden Datenverkehr in diesem Dienst überwachen und nach anderen Prinzipien ordnen und weiterleiten als nach "wer zuerst kommt malt zuerst" – sonst wäre der "managed service" sinnlos. Lukrativer Nebeneffekt: Es lassen sich sehr viel detailgenauere Nutzerprofile von den Spezialdienst-Konsumenten erstellen, als dies bisher im offenen Internet möglich war, zumal für den Zugang ein eindeutiger Identitätsnachweis des Nutzers erforderlich ist.
Ein letztes Gedankenspiel sei erlaubt: Wenn wir schon heute erhebliche Probleme damit haben, die Macht und den Einfluss Googles, einer einfachen Suchmaschine im Netz, auf den wirtschaftlichen Erfolg anderer Unternehmen zu begrenzen, wie viel schwerer dürfte es uns dann fallen, in einigen Jahren die Netzbetreiber selbst zu bändigen, die doch mit dem Wunsch nach Spezialdiensten genau das Gleiche wollen wie Google? Nämlich den eigenen, in einem Spezialdienst gebündelten Angeboten einen Vorrang gegenüber dem Rest der Welt einräumen.

Auch die Frage, ob wir überhaupt flächendeckend ein Kapazitätsproblem haben, darf gestellt werden. Für die "back bones", die Hauptadern des Internets, scheint dies gar nicht zuzutreffen. Der Weg von diesen Hauptadern zum einzelnen Nutzer ist das Problem. Und offensichtlich lebt es sich damit nicht schlecht: Seitens der Unternehmen werden mittels "bis zu xx MB je Sekunde"- Formulierungen in den Kundenverträgen Datengeschwindigkeiten in Aussicht gestellt, die im Kupfernetz niemals erreichbar sind. Vertrag zu 10 % erfüllt, wofür sehr real 100% Geld verlangt wird. Wie kann es zudem sein, dass fortschrittliche High-Speed Glasfaserkabel durch kleinere Orte verlegt werden ohne dort Verteilerkästen oder Anschlüsse vorzusehen? Soviel zur immer wieder versprochenen ländlichen Versorgung seitens der Unternehmen und zu dem Argument die Tiefbau- und Grabungskosten seien das Problem. Ja, wenn man x-mal graben muss, wird das teuer.

Auch darf hinterfragt werden ob wir tatsächlich jeden Winkel dieser Republik mit mindestens 50 MB versorgen müssen. Leider wurde die Idee der tatsächlichen Bedarfsmessung in sogenannten Breitbandatlanten nicht koordiniert flächendeckend und öffentlich weiterverfolgt, so dass der Behauptung keine "amtlichen" Zahlen gegenübergestellt werden können. Aber es gibt private Bemühungen, ein Bild zu erstellen – dies spricht jedoch eine andere Sprache. Der (N)ONLINER Atlas 2013 der Initiative D21 kommt zu dem Ergebnis, dass die Nachfrage nach breitbandigen Anschlüssen im Vergleich zu 2012 sank. Als Gründe für die Nichtnutzung des Internets wurden Datenschutz- und Sicherheitsbedenken genannt. Welcher wirtschaftliche Schaden entsteht uns schon jetzt dadurch, dass Netzbetreiber sehr intensiv die Daten ihrer Kunden nutzen und sie vereinzelt an Geheimdienste herausgeben? Mit welcher Vehemenz Netzbetreiber sich gegen aus ihrer Sicht zu strenge Datenschutzauflagen in der seit Monaten in Brüssel nicht voran kommenden Datenschutz-Grundverordnung wehren, bedürfe eines eigenen Artikels.
Jeder, auch Netzbetreiber, dürfen mit rhetorischem Geschick ihre Interessen vertreten und versuchen diese durchzusetzen. Nur sollte die Politik nicht auf Versuche reinfallen, sich für dumm verkaufen zu lassen. Vor allem nicht im "Neuland". Die jetzt zu treffenden Entscheidungen werden nicht nur prägend für die Netzinfrastruktur der kommenden Jahre sein, sondern auch für die Art der Kommunikation und der Informationsbeschaffung in unseren Gesellschaften. Es geht um so viel mehr als nur um eine Frage der technischen Infrastruktur oder darum Gewinnmaximierungsinteressen von Unternehmen zu befriedigen. Es geht um fundamentale Grundrechte. Umso wichtiger ist es für die Politik, sich auf ihre Rolle zurückzubesinnen: Der Freiheit und der Chancengleichheit Geltung zu verschaffen, auch dann, wenn sich dieser Weg zurzeit vermeintlich als der schwierigere darstellen mag.