Grundsatzrede von Petra Kammerevert zur Zukunft der europäischen Kulturpolitik

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Keynote von Petra Kammerevert, Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung  im Europäischen Parlament, anlässlich der 2. Plenarsitzung des Europäischen Kulturerbejahres 2018 in Mailand

Sehr geehrte Damen und Herren!

Das Europäische Kulturforum, das wir heute und morgen gemeinsam hier in Mailand begehen, bietet eine gute Gelegenheit, Schlüsselakteure Europäischer Kulturpolitik zusammenzubringen. Das Forum erlaubt auch, Kooperation im Kulturbereich voranzubringen, und Erfolge, wie die Einrichtung des Europäischen Jahres des Kulturerbes, gemeinsam zu feiern.

Das Forum bietet indes auch eine Plattform, um die problematischeren Aspekte heutiger Kulturpolitik zu beleuchten und zentrale Herausforderungen zu benennen, denen sich die Kultur heute gegenübersieht. Dies wollen wir im Rahmen des heutigen Nachmittagspanels tun. Ich freue mich, dass die Organisatoren mir die Aufgabe übertragen haben, dieses Panel einzuleiten und meine Überlegungen zur zukünftigen Kulturpolitik vorzutragen.

Es steht außer Zweifel, dass es hinsichtlich der Kultur und der Kulturpolitik, durchaus Anlass zu Freude und Stolz gibt. Doch ich will nicht verhehlen, dass ich zugleich eine ganze Reihe an Problemen und Herausforderungen sehe, die nicht unerwähnt bleiben sollen.
Lassen Sie mich dies im Lichte des „Arbeitsplanes für Kultur (2015-2018)“ des Rates aus dem Jahre 2014 demonstrieren. Dieser markiert – wenn man so will – die selbstgesteckten gemeinsamen Ziele der EU und vor allem ihrer Mitgliedsstaaten und umfasst insgesamt vier Prioritätsfelder. Diese lauten:
1. Eine für alle zugängliche Kultur
2. Kulturelles Erbe
3. Kultur- und Kreativsektoren: Kreativwirtschaft und Innovation
4. Förderung der kulturellen Vielfalt, Kultur in den Außenbeziehungen der EU und Mobilität

Leider ist festzuhalten, dass es auf allen vier Feldern nennenswerte Schwierigkeiten gibt, die formulierten Ziele zu erreichen, bzw. den hehren Worten des Arbeitsplanes auch entsprechende Taten folgen zu lassen.

Was die erste Priorität „Einer für alle zugänglichen Kultur“ betrifft, so steht hierbei die Stärkung kultureller Bildung im weitesten Sinne im Fokus.
Konkret: die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen hinsichtlich Kulturbewusstsein und kultureller Ausdrucksfähigkeit, die Förderung des Zugangs zu Kultur über digitale Medien, und die Förderung des Beitrags der Kultur zur sozialen Inklusion.

Dies sind zweifellos essentielle und unterstützungswürdige Ambitionen.
Ehrlich gestanden kann ich abseits von politischen Willensbekundungen und Arbeitspapieren aber nicht erkennen, dass in den vergangenen Jahren große Fortschritte erreicht wurden, und wir heute dem Ziel einer für alle zugänglichen Kultur wirklich viel näher gekommen sind.

Manche Entwicklungen geben mir im Gegenteil eher Grund zur Sorge: In einer Zeit, in der nicht nur im Kontext des Politischen vor allem dem Individualismus und Egoismus gefrönt wird, in der man sich im Kollektiv wie als Individuum eher vom „anderen“ abgrenzt anstatt sich diesem zu öffnen, hat das „Gemeinsame“ auch im kulturellen Bereich einen schweren Stand.

Leider, so ist festzuhalten, tragen auch die sozialen Medien nicht notwendigerweise und automatisch zu einem offeneren Zugang zu Kultur bei. Als Beispiel lassen sich die maßgeblich durch die sozialen Medien beförderten „Echoräume“ nennen.
In diesen Echoräumen besteht keine Motivation mehr, sich anderen Meinungen und Ausdrucksformen – wenn man so will, „Kultur“ im weiteren Sinne – zu stellen. Teilweise besteht aber auch erst gar nicht die Möglichkeit dazu, da Online-Plattformen aufgrund angeblicher persönlicher Präferenzen darüber entscheiden, was uns interessiert und was nicht.

Umso mehr müssen wir uns heute dringlich Gedanken darüber machen, was wir gemeinsam – Politik, Gesellschaft, aber auch jede und jeder für sich selbst – tun können, um dem Ziel einer für alle zugänglichen Kultur näher zu kommen.

Ein erster wichtiger Schritt wäre es, die kulturelle Bildung als integralen Bestandteil unserer Bildungssysteme – und zwar vom Kindergarten bis zur Ausbildung in Schulen und Hochschulen zu etablieren. Noch immer ist dies nicht in allen unseren Bildungssystemen der Fall und noch viel zu häufig wird der Besuch eines Theaters, eines Kinos oder eines Museums als Unterrichtsausfall oder mangelnde Phantasie der Lehrerinnen und Lehrer, denen für den Unterricht nichts Besseres einfällt, fehlgedeutet.

Aber das ist aus meiner Sicht genau der falsche Ansatz. Wir müssen frühzeitig anfangen, unsere Kinder an Kunst und Kultur heranzuführen und zwar auch genau diejenigen die von Zuhause aus nicht das nötige Rüstzeug mit auf den Weg bekommen. Auch die Erlangung von Medienkompetenz, d.h. das Erlernen des kritischen und selbstbewussten Umgangs mit allen Formen der digitalen Medien gehört für mich heute unabdingbar zu den wesentlichen Kulturkompetenzen dazu.

Dies schließt die Frage mit ein, was Kultureinrichtungen wie Museen und Theater unter sich dynamisch verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen heute leisten können und müssen; und auch, wie wir sie in die Lage versetzen können, erfolgreich zu sein.

Was die zweite Priorität „Kulturelles Erbe“ betrifft, so ist insgesamt etwas mehr Optimismus angesagt. Dies gilt nicht zuletzt angesichts des bevorstehenden Europäischen Jahres des kulturellen Erbes. Dieses Europäische Jahr bietet 2018 die einmalige Gelegenheit, diesen Aspekt von Kultur prominent und breitenwirksam zu präsentierten und gemeinsam zu diskutieren.

Wir haben es selbst in der Hand, diese große Chance zu nutzen und daraus einen Erfolg zu machen.
Albert Schweitzer (1875-1965) hat dereinst angemerkt: Das Verhängnis unserer Kultur ist, dass sie sich materiell viel stärker entwickelt hat als geistig und ihr Gleichgewicht dadurch gestört sei.

Kultur und Kulturerbe lassen sich aber nicht ausschließlich auf die „materielle“ Dimension beschränken. Sie umfassen vielmehr auch verschiedenste immaterielle Elemente. Vor diesem Hintergrund erscheint dieser Befund heute mehr denn je zutreffend.

Bemüht man ein solches umfassendes Kulturerbeverständnis, so wird relativ schnell klar, dass die Instrumentalisierung und der Missbrauch von „Kultur“ für machtpolitische, nationalistische und populistische Zwecke nichts an Reiz eingebüßt hat.

Oft geht es hierbei um nicht weniger, als sich durch Verweis auf die eigene „kulturelle“ Identität, Einzigartigkeit bzw. Überlegenheit dem kritischen Dialog zu entziehen, sowie demokratische Mechanismen und Rechtsstaatlichkeit auszuhebeln. Der Begriff der „Leitkultur“, der seit einigen Jahren zumindest in Deutschland in Debatten immer wieder bemüht wird, steht beispielhaft für ein solches Kulturverständnis.

Von daher geht es nicht zuletzt um eine Pflege unserer politischen Kultur, die ebenfalls eine Form von Kultur ist, und vielleicht nicht die unwichtigste.

Was unsere politische Kultur betrifft, so bedarf es nicht mehr und nicht weniger als einer neuen Aufklärung: Bedächtigkeit anstelle von Lärm, Kompromissfindung anstelle von Polarisierung, auf Fakten und Argumenten basierender rationaler Diskurs anstelle von Geschwätzigkeit und Überheblichkeit.

Was die dritte Priorität des Arbeitsplanes für Kultur betrifft – namentlich „Kreativwirtschaft und Innovation“ -, gilt es zunächst Erfreuliches festzustellen: Das Potential der Kultur- und Kreativsektoren für die wirtschaftliche Entwicklung Europas wird mehr und mehr erkannt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf das Ziel von intelligentem und nachhaltigem Wachstum.

Die Politik wird sich zusehends bewusst, dass Kultur eines jener Elemente ist, das die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas am besten und nachhaltigsten zu sichern vermag. Oder, um es weniger wirtschaftswissenschaftlich auszudrücken: Kultur ist das vielleicht Einzigartigste, was Europa zu bieten hat.

Der Kulturtourismus nach Europa verzeichnet einen beständig positiven Trend und trägt zum gegenwärtigen Aufschwung des Kontinents wesentlich bei. Zugleich wächst das Bewusstsein für die Rolle von öffentlichen politischen Maßnahmen im Rahmen der Entwicklung des unternehmerischen und innovativen Potenzials der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Einmal mehr ist jedoch ein Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität festzumachen.

Dies zeigt sich in besonderer Weise an der gänzlich unzulänglichen Bereitstellung von öffentlichen Finanzmitteln für die Kultur.

Nimmt man es ernst mit der gewünschten Stärkung von Kultur und ihres Innovationspotentials, so kann sich Unterstützung nicht auf Sonntagsreden und Leuchtturmprojekte beschränken: Es gilt, die chronische Unterfinanzierung von Kultur zu beheben, und vor allem die Unterstützung für kleinere Kulturakteure massiv zu erhöhen. Denn durch diese kleineren Kulturakteure muss ein Großteil des Potentials von Kultur gehoben werden und gerade sie sind es, die im Lokalen wirken und so die volle gesellschaftsintegrative Kraft von Kultur zu entfalten in der Lage sind.

Nicht zuletzt darf sich öffentliche Kulturfinanzierung nicht darin erschöpfen, ausschließlich das politisch Genehme oder den Mainstream zu fördern. Kultur ist mehr als nur Mehrheitsmeinung.

Schließlich die vierte Priorität: „Förderung der kulturellen Vielfalt, der Kultur in den Außenbeziehungen der EU und der Mobilität“.

Es ist erfreulich, dass unter der Federführung der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Frau Federica Mogherini, Kultur erstmals explizit als ein wichtiges Instrument in den auswärtigen Beziehungen der EU benannt und erkannt wurde. Angesichts des Mangels der EU an „hard power“ macht diese Hinwendung zu Kultur großen Sinn.

Sie mag nicht zuletzt dazu beitragen, dem Platonschen Diktum, dass Kultur der Sieg der Überzeugung über die Gewalt sei, zu neuer globaler Relevanz zu verhelfen.

Abzuwarten bleibt jedoch, wie und in welcher Intensität konkret sich diese „Hinwendung zur Kultur“ in den Außenbeziehungen gestalten wird.
Selbst wenn sie mit Nachdruck und Konsequenz vorangetrieben werden sollte, so hängt die Glaubwürdigkeit Europas in der Welt doch zentral davon ab, wie ernst man die eigenen kulturellen Werte nimmt.

Der vielleicht fundamentalste Wert ist Vielfalt. Gerade dahingehend aber steht im heutigen Europa keineswegs alles zum Besten:

Sei es, dass Vielfalt bewusst vernachlässigt oder gar unterdrückt wird;

dass Minderheitenrechte mit Füßen getreten und Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Anschauungen bewusst benachteiligt werden;

Sei es, dass Demokratie als „Diktatur der Mehrheit“ missverstanden wird und Vielfalt nur dann Betonung findet, wenn es um die Diskreditierung gemeinsamer Werte und von Gemeinschaft, sowie das Aufrichten neuer Zäune, Grenzen und Barrieren geht.

Europa muss das eigene Motto “Einheit in Vielfalt“ ernst nehmen und es leben, will es in der Welt damit erfolgreich sein.

Ein Schritt, um dem Wert der Vielfalt zu jener Geltung zu verhelfen, den er verdient, ist die Förderung des interkulturellen Dialogs in unseren Gesellschaften. Ebenso die Stärkung von transnationaler Mobilität – von Jugendlichen, Studenten und Lehrenden, aber auch von Kulturschaffenden.

Kaum etwas trägt besser dazu bei, Verständnis für den anderen und das andere zu schaffen, als persönliche Erfahrungen. Mit dem Erasmus+-Programm steht der EU bereits ein äußerst erfolgreiches Instrument zur Verfügung, um dieses „Erfahren“ möglich zu machen. Wir müssen alles daran setzen, dieses weiter zu stärken.

Kurzum: Kultur und Kulturpolitik sind heute in Europa zwar in keinem desperaten Zustand, aber ihr Zustand ist auch alles andere als hervorragend.

Vor dem Hintergrund dieses Befundes deshalb meine leidenschaftliche Aufforderung: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass Kultur das volle Potential entfalten kann, das ihr innewohnt.
Und um mit den Worten des schwedischen Schriftstellers August Strindberg zu schließen: Am Ende ist die ganze Kultur eine große, endlose Zusammenarbeit.

Ich meinerseits würde vielleicht noch hinzufügen: auch eine schöne und lohnende Zusammenarbeit, denn Kultur ist nicht nur die notwendige Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie darf auch einfach mal nur Spaß machen, unterhalten und Menschen zusammenbringen.

In diesem Sinne freue ich mich nunmehr auf eine spannende Diskussion.