Rede von Petra Kammerevert, Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung, anlässlich des Treffens der Europäischen Kulturminister in Sofia am 28. Februar 2018
Sehr geehrter Herr Banov!
Geschätzter Herr Navracsics!
Verehrte Ministerinnen und Minister!
Werte Damen und Herren!
Es ist mir eine außerordentlich große Freude, heute in meiner Funktion als Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung im Europäischen Parlament an diesem informellen Ratstreffen der Europäischen Kulturminister teilzunehmen.
Ich erachte das heutige Ratstreffen nicht zuletzt als Ausdruck der insgesamt gewachsenen Rolle, die Kultur für die Europäische Union heute einnimmt.
Sinnbildlich für die Wertschätzung, die Kultur derzeit auf europäischer politischer Ebene erfährt, ist das Europäische Jahr des kulturellen Erbes, das wir in diesem Jahr feiern. Aber auch über diese so wichtige Initiative hinaus scheint es mir, dass zusehends der intrinsische Wert von Kultur und kulturellen Ausdrucksformen erkannt wird: Nicht nur als ein ökonomischer Faktor, der Kultur zweifellos auch ist, etwa wenn wir an die Kreativwirtschaft oder den Tourismus denken; sondern auch und vor allem als ein Faktor, der Menschen in seinen Bann zu ziehen, zu motivieren und an ein Gemeinwesen zu binden vermag. Mit anderen Worten: Kultur als Nukleus von Gemeinschaft.
Als illusorisch, um nicht zu sagen naiv, hat sich auf europäischer Ebene die Hoffnung erwiesen, dass ein allein wirtschaftlich bestimmtes „Europäisches Projekt“ genug Bindungskräfte entfalten könnte, um eine hinreichende und vor allem langfristige Identifikation von Bürgerinnen und Bürgern mit „Europa“ gewährleisten zu können, geschweige denn Menschen emotional anzusprechen. Dies hat sich in aller Schärfe und Dramatik in den vergangenen Jahren der fast allgegenwärtigen Krise gezeigt: Es kommt nicht von ungefähr, dass just in dem Moment, in dem die Wahrnehmung der EU als ein langfristiges wirtschaftliches Erfolgsprojekt Risse bekam, Populismus, Nationalismus und politischer Extremismus in ganz Europa enormen Auftrieb erhalten haben. Die damit einhergehenden Desintegrationstendenzen stellen das europäische Einigungswerk erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg fundamental in Frage, und müssen uns allen als Weckruf dienen.
Das jetzige Ratstreffen sehe ich als hoffnungsvollen Ausdruck dessen, dass Sie, geschätzte Ministerinnen und Minister, diesen Ruf vernommen haben und Kultur jene integrative Rolle zuerkennen wollen, die sie ausfüllen kann und in der Tat auch auszufüllen verdient.
Die zwei erkenntnisleitenden Fragen, die unsere Diskussionen hier in Sofia strukturieren sollen, sind gleichermaßen zielführend wie ambitioniert:
1. Wie und vermittels welcher Aktivitäten kann Kultur als ein – vielleicht der – Faktor zur Stärkung eines europäischen Gemeinschaftssinnes etabliert werden?
2. Wie kann gerade das Potential junger Menschen ausgeschöpft werden, Europäische Werte mittels Kultur zu bewahren aber auch weiterzuentwickeln?
Die Tatsache allein, dass die konstitutive Rolle von Kultur so klar bejaht und so offen danach gefragt wird, wie die damit in Zusammenhang stehenden Potentiale am besten ausgeschöpft werden können, ist an sich bereits ein Novum von hohem Wert.
Zugleich gilt es aber, sich nicht bloß in Euphorie zu ergehen. Es muss sichergestellt werden, den hehren Worten auch konkrete Taten folgen zu lassen.
Um dies erfolgreich bewerkstelligen zu können, ist es zugleich unabdingbar, bestehende Herausforderungen und Probleme von Kultur und Kulturpolitik in Europa offen anzusprechen. Erlauben Sie mir, dies hier und heute exemplarisch und in gebotener Kürze zu tun. Konkret will ich dies mit Fokus auf drei Aspekte beziehungsweise Ansprüche von „Kultur“ in Europa tun, hinsichtlich derer mir das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit besonders evident scheinen.
1. Anspruch einer „für alle zugänglichen Kultur“
2. Verständnis von „Kultur“ und „kulturellem Erbe“ als integratives Element
3. Anspruch von „Vielfalt“ als der zentrale kulturelle Wert
Zunächst zum Anspruch einer „für alle zugänglichen Kultur“, wie dies ja auch eine Priorität des aktuellen Europäischen „Arbeitsplanes für Kultur (2015-2018)“ ist:
Soll Kultur erfolgreich als gesellschaftliches Vehikel zur Stiftung von Zugehörigkeitsgefühl und der Förderung europäischer demokratischer Werte dienen, so ist eine entsprechende „kritische Masse“ unabdingbar. Dies wiederum kann nur gelingen, wenn eine möglichst uneingeschränkte Zugänglichkeit von Kultur und kulturellen Ausdrucksformen durch die Bürgerinnen und Bürger gewährleistet wird, und diese zugleich den Wert von Kultur zu schätzen wissen.
Instrumente, die dazu angetan sind, Kultur offen und auch breitenwirksam zu gestalten, sind vor allem die bewusste Entwicklung von entsprechenden Schlüsselkompetenzen hinsichtlich Kulturbewusstsein und kultureller Ausdrucksfähigkeit, aber auch die Förderung des Zugangs zu Kultur und die Förderung des Beitrags der Kultur zur sozialen Inklusion.
Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich abseits von politischen Willensbekundungen nicht erkennen kann, dass in den vergangenen Jahren große Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht wurden, und wir heute dem Ziel einer für alle zugänglichen Kultur wirklich viel näher wären.
Manche Entwicklungen geben mir im Gegenteil eher Grund zur Sorge: In Zeiten, in denen der Kulturbereich wie eh und jäh an einer gänzlich unzulänglichen Bereitstellung von öffentlichen Finanzmitteln laboriert, ist es schwierig, neue Akzente zu setzen und mehr Menschen den Zugang zu Kultur in seinen so vielfältigen Ausdrucksformen zu eröffnen.
Erschwerend kommt hinzu, dass in einer dem Individualismus und Egoismus zuneigenden Ära, in der man sich im Kollektiv wie als Individuum eher vom „Gegenüber“ abgrenzt denn sich diesem öffnet, das „Gemeinsame“ und „Verbindende“ zu kurz kommt. Dies gilt auch und im Besonderen für den Bereich der Kultur, und verweist zugleich auf Defizite und Inkohärenzen hinsichtlich des verbreiteten Verständnisses von Kultur und kulturellem Erbe. Das ist der zweite der Punkte, die ich mir kritisch anzusprechen erlaube.
Wie selbstverständlich wird meist unterstellt, dass Kultur per se integrative Wirkung entfaltet und dazu angetan ist, Gräben zu überbrücken und Vorurteile zu überwinden; kurzum: universal ist. Dies scheint mir paradoxerweise jedoch in diametralem Gegensatz dazu zu stehen, wie Kultur und kulturelles Erbe heute vor allem im politischen Kontext gedeutet und genutzt wird. Dort gilt bis heute das Wort des Vaters der modernen Geschichtswissenschaft, Leopold von Ranke, der bereits im 19. Jahrhundert anzumerken wusste, dass mit der Kultur immer auch die Macht verbunden ist. Dementsprechend haben die Instrumentalisierung und der Missbrauch von „Kultur“ für machtpolitische, nationalistische oder populistische Zwecke nichts an Reiz eingebüßt. Der Verweis auf die eigene „kulturelle“ Identität, Einzigartigkeit beziehungsweise Überlegenheit ist nach wie vor gang und gäbe und dient nicht selten dazu, sich dem kritischen Dialog zu entziehen oder gar demokratische Mechanismen und Rechtsstaatlichkeit bewusst auszuhebeln. Versuche, über Grenzen hinweg kulturelle Gemeinsamkeiten ausfindig zu machen und diese zu pflegen, bleiben die Ausnahme. Zumindest aber sind sie zu gering an Zahl, um das Absondernd-Selbstbeweihräuchernde aufzuwiegen, das den Diskurs um Kultur in der Politik bis heute bestimmt.
Von daher muss uns als Politikern nicht zuletzt an einer Pflege der politischen Kultur gelegen sein, die ebenfalls eine Form von Kultur ist, und nicht die unwichtigste.
Dies führt mich zum dritten und letzten, zugleich vielleicht wichtigsten Punkt: Der Frage, wie ernst wir unsere eigenen kulturellen Werte nehmen, und hierbei vor allem den Wert der „Vielfalt“: „Vielfalt“ bildet nicht nur den Kern des Mottos der Europäischen Union; „Vielfalt“ und seine Bewahrung sind auch zentrale Elemente dessen, was in der Welt als „Europäisches Modell“ gilt.
Doch wie ist es um Vielfalt in Europa bestellt?
Leider keineswegs zum Besten: Sei es, dass Vielfalt bewusst vernachlässigt oder gar unterdrückt wird; dass Minderheitenrechte mit Füßen getreten, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Anschauungen bewusst benachteiligt werden, und Demokratie als „Diktatur der Mehrheit“ missverstanden wird; sei es, dass Vielfalt nur dann Betonung findet, wenn es um die Ablehnung gemeinsamer Werte und von Gemeinschaft, sowie das Aufrichten neuer Zäune, Grenzen und Barrieren geht.
Bezeichnend ist, dass die lautesten Befürworter von „Vielfalt“ auf europäischer Ebene oft jene sind, die in anderen und vor allem nationalen Kontexten diesem Wert am wenigsten abgewinnen können. Um sich jedoch ernsthaft auf die „Einheit in Vielfalt“ berufen zu dürfen, muss man „Vielfalt“ immer und ohne Ausnahme ernst nehmen und zur Richtschnur seines Handelns machen – nicht nur dann, wenn es politisch opportun ist.
Ein Schritt, um dem Wert der Vielfalt zu jener Geltung zu verhelfen, den er verdient, ist die Förderung des interkulturellen Dialogs in unseren Gesellschaften. Ebenso die Stärkung von transnationaler Mobilität – von Jugendlichen, Studenten und Lehrenden, aber auch von Kulturschaffenden.
Kaum etwas ist besser dazu in der Lage, Verständnis für den anderen und das andere zu schaffen, als persönliche Erfahrungen. Mit dem Erasmus+-Programm steht der EU bereits ein äußerst erfolgreiches Instrument zur Verfügung, um dieses „Erfahren“ möglich zu machen. Wir müssen alles daran setzen, dieses weiter zu stärken, ebenso wie die Instrumente, die uns das erfolgreiche Programm „Kreatives Europa“ an die Hand gibt.
Dies bringt mich zum Ende meiner Ausführungen. Sie wissen selbst nur allzu gut aus Ihrer täglichen Arbeit, dass der Stand, den die Kultur quer durch Europa und vor allem gegenüber anderen Politikfeldern hat, kein leichter ist. Und ich bin mir vollauf bewusst, hier unter Gleichgesinnten zu sein, denen Kultur ein wirkliches Herzensanliegen ist.
Nehmen Sie meine Worte daher bitte nicht als persönliche Kritik, sondern vielmehr als leidenschaftliche Aufforderung, gemeinsam und hart daran zu arbeiten, dass Kultur das volle positive Potential entfalten kann, das ihr innewohnt – zum Besten unserer aller Nationen und Europas im Gesamten.