„Stärkung der europäischen Identität über die Kultur“

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Rede von Petra Kammerevert, der Vorsitzenden des Ausschusses für Kultur und Bildung, anlässlich der Plenardebatte des Europäischen Ausschusses der Regionen

Sehr geehrte Herrn Präsidenten Lambertz und Jahier!
Geschätzter Kommissar Navracsics!
Verehrte Mitglieder des Ausschusses der Regionen!
Werte Damen und Herren!

Es ist mir eine außerordentlich große Freude, in meiner Funktion als Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung im Europäischen Parlament an der heutigen Plenardebatte des Europäischen Ausschusses der Regionen zum Thema „Local and regional authorities as key drivers for strengthening European identity through culture“ teilzunehmen.

Kultur nimmt heute eine wachsende Bedeutung für die Europäische Union ein. Dies lässt sich nicht nur an dem Thema Ihrer heutigen Sitzung ablesen. Für diese Wertschätzung, die Kultur derzeit europäisch und auf politischer Ebene erfährt, steht insbesondere das Europäische Jahr des kulturellen Erbes, das wir 2018 feiern. Über diese so wichtige Initiative hinaus scheint es mir, dass zusehends der intrinsische Wert von Kultur und kulturellen Ausdrucksformen erkannt wird: Nicht nur als ein ökonomischer Faktor, der Kultur zweifellos auch ist, etwa wenn wir an die Kreativwirtschaft oder den Tourismus denken; sondern auch und vor allem als etwas, was Menschen emotional zu berühren, zu motivieren und an ein Gemeinwesen zu binden vermag. Mit anderen Worten: Kultur als Nukleus von Gemeinschaft.

Als illusorisch hat sich die Hoffnung erwiesen, ein allein wirtschaftlich bestimmtes „Europäisches Projekt“ könne genug Bindungskräfte entfalten, um eine hinreichende und vor allem langfristige Identifikation von Bürgerinnen und Bürgern mit „Europa“ zu gewährleisten. Dies hat sich in aller Schärfe und Dramatik in den vergangenen Jahren der fast allgegenwärtigen Krise gezeigt: Es kommt nicht von ungefähr, dass genau in dem Moment, in dem die Wahrnehmung der EU als ein langfristiges wirtschaftliches Erfolgsprojekt Risse bekam, Populismus, Nationalismus und politischer Extremismus in ganz Europa enormen Auftrieb erhalten haben. Die damit einhergehenden Desintegrationstendenzen stellen das europäische Einigungswerk fundamental in Frage, und müssen uns allen als Weckruf dienen.

Wenn wir uns nunmehr konkret fragen, welche integrative Rolle „Kultur“ für die Schaffung einer wie auch immer gearteten Europäischen „Identität“ spielen mag, so stellt sich zunächst das Problem, dass man es mit zwei überaus komplexen Begriffen zu tun hat: Der Kulturbegriff wie auch der Identitätsbegriff entziehen sich gleichermaßen klaren Definitionen und sind durch Vagheit, Mannigfaltigkeit und Flexibilität weit mehr als durch Eindeutigkeit, Einheitlichkeit und Rigidität gekennzeichnet. Macht es dies auch herausfordernder, mit den Begriffen Kultur und Identität zu hantieren, zumal im Zusammenhang, so ist darin doch auch eine Chance zu erkennen. Soll nämlich so etwas wie ein verbindender europäischer Gemeinsinn entstehen, so kann dies – zumal angesichts der historisch gewachsenen Vielfalt, die unseren Kontinent auszeichnet – weder mittels eines harmonisierten Kulturverständnisses noch mit dem Ziel einer einheitlichen Identität geschehen. Vielmehr gilt es, den Fokus eines solchen Unterfangens auf den Reichtum und die Diversität kultureller Erfahrungen und Ausdrucksformen zu richten, die gerade in ihrer Vielfalt letztlich Einheit stiften können – ganz dem vielzitierten Motto der Europäischen Union entsprechend.

Ein solcher Zugang unterscheidet sich grundlegend von traditionellen Konzepten einer kulturell fundierten Identität, die in ihrer Betonung von gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Sprache oder gemeinsamen Traditionen als Grundlage politischer Gemeinwesen vor allem mit Blick auf den Nationalstaat Anwendung gefunden haben.

Zugleich bin ich der festen Überzeugung, dass das Ausblenden von Kultur in Diskursen um europäische Identität nicht zielführend ist: Eine allein politisch-institutionell fundierte Identität – wie sie im Habermas’schen Konzept des „Verfassungspatriotismus“ mit seiner Betonung von demokratischen Einrichtungen und Praktiken als Kristallisationspunkt einer europäischen Identität zum Ausdruck kommt – scheint mir ohne eine ergänzende kulturelle Komponente schlichtweg nicht tragfähig zu sein. Dies gilt nicht zuletzt, da „politische Identität“ weithin jene Begeisterungsfähigkeit und Emotionalität vermissen lässt, wie sie der Kultur zu eigen ist.

Wenn wir „Vielfalt“ nicht bloß als das Signum europäischen Seins bestimmen, sondern „Vielfalt“ auch als Grundlage und Quelle, und nicht als Hindernis, eines europäischen Gemeinschaftssinnes erkennen, so folgert daraus unmittelbar auch die Hauptaufgabe, die sich für uns als Politiker stellt: Namentlich „Vielfalt“ zu fördern und zu bewahren.

Ziel der Politik darf es nicht sein, Kulturpolitik „top-down“ zu betreiben oder sich gar anzumaßen zu bestimmen, was als Kultur zu gelten hat. Vielmehr gilt es, die Freiheit der Kultur vehement und ohne Unterlass zu verteidigen, das Bequeme ebenso wie das Unbequeme. Zugleich muss es Aufgabe der Politik sein, Vielfalt auch dahingehend zu gewährleisten, dass der Zugang zu Kultur und kulturellem Erbe – sei es in materieller oder immaterieller Form – so weit als möglich erleichtert und gefördert wird: Kultur darf nicht bloß ein Gut der Bildungseliten und jener sein, die es sich leisten können, sondern muss jedermann offen stehen.

Gerade in dieser Hinsicht ruhen große Erwartungen auch auf der neuen Europäischen Kulturagenda, deren Veröffentlichung durch die Europäische Kommission in der kommenden Woche ich bereits mit Spannung entgegenblicke, und die nach erfolgter Verabschiedung durch die Mitgliedsstaaten die Kulturpolitik der kommenden Jahre maßgeblich prägen wird.

Der Wert der Vielfalt wird gerade von Ihnen, geschätzte Mitglieder des Ausschusses der Regionen, hochgehalten, zumal Vielfalt durch die Regionen und Städte Europas so sinnbildlich verkörpert wird. Von daher können Sie vielleicht meine pessimistische Einschätzung teilen, dass es um die Vielfalt in Europa bedauerlicherweise keineswegs zum Besten bestellt ist. Im Bereich der Kultur, aber auch weit darüber hinaus, scheinen mir politische Rhetorik und Realität teilweise weit auseinanderzuklaffen. Allzu oft wird „Vielfalt“ bewusst vernachlässigt oder gar unterdrückt, werden Minderheitenmeinungen und -äußerungen mit Füßen getreten, wird Demokratie als „Diktatur der Mehrheit“ missverstanden, oder findet Vielfalt ausschließlich dann Betonung, wenn es um die Ablehnung gemeinsamer Werte und von Gemeinschaft, sowie das Aufrichten neuer Zäune, Grenzen und Barrieren geht.
Bezeichnend ist, dass die lautesten Befürworter von „Vielfalt“ auf europäischer Ebene oft jene sind, die in anderen und vor allem nationalen Kontexten diesem Wert am wenigsten abgewinnen können. Um sich jedoch ernsthaft auf „Vielfalt“ berufen zu dürfen, muss man „Vielfalt“ immer und ohne Ausnahme ernst nehmen und zur Richtschnur seines Handelns machen – nicht nur dann, wenn es politisch opportun ist und „Kultur“ für machtpolitische, nationalistische oder populistische Zwecke instrumentalisiert werden soll. Oft geht es hierbei um nicht weniger, als sich durch Verweis auf die eigene „kulturelle“ Identität, Einzigartigkeit bzw. Überlegenheit dem kritischen Dialog zu entziehen, oder gar demokratische Mechanismen und Rechtsstaatlichkeit bewusst auszuhebeln.

Vor diesem Hintergrund geht es nicht zuletzt auch um eine Pflege unserer politischen Kultur, die ebenfalls eine Form von Kultur ist, und gewiss nicht die unwichtigste.
Gefragt ist hierbei ein fester Wertekanon, auf den sich eine von gegenseitigem Respekt und Kritikfähigkeit, aber auch Bereitschaft zu offener und ehrlicher Auseinandersetzung, geprägte politische Kultur beziehen kann. Ein solcher Wertekanon steht der EU bereits zur Verfügung, namentlich in Gestalt der europäischen Verträge und insbesondere der Charta der Grundrechte der EU. Es gilt bloß, die dort niedergelegten Grundfreiheiten, Grundwerte und Grundrechte ernst zu nehmen und mit Leben zu füllen.

Hier schließt sich dann auch der Kreis und wird deutlich, dass eine kulturell und eine politisch-demokratische fundierte Identität vollends komplementär sind und sich sogar gegenseitig bedürfen, soll das Projekt „Europäische Identitätsstiftung“ von Erfolg gekrönt sein.

Mein leidenschaftlicher Aufruf an Sie deshalb: Lassen Sie uns gemeinsam und hart daran arbeiten, die EU vor allem anderen als demokratische Institutionen- und Wertegemeinschaft voranzubringen, sodass Kultur in diesem Rahmen das volle positive Potential entfalten kann, das ihr innewohnt – zum Besten Europas und seiner Bürgerinnen und Bürger.