„Raum EUROPA – Wo Kultur und Kreativität Zuhause sein sollten“

Petra Kammerevert, MdEP Bild: © FKPH

Rede anlässlich der FES-Veranstaltung „Raum Europa und wie Kultur ihn belebt: 3. Fachtagung der Veranstaltungsreihe“

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Suche nach einem Ort, an dem wir leben wollen, an dem wir zufrieden sind und uns wohl fühlen, schlichtweg Zuhause sind, beschäftigt uns vermutlich alle immer mal wieder.

Während sich die Menschen vor einigen Jahrzehnten noch nicht weit von ihren Geburtsorten entfernten und blieben, wo sie geboren und sozialisiert wurden, sieht das Leben vieler Menschen heutzutage ganz anders aus: Sie sind flexibel, mobil und gehen dorthin, wo der nächste interessante Job oder eine anderweitige Herausforderung auf sie wartet – dank Europa auch über Ländergrenzen hinweg.

Der Begriff des Zuhauses hat sich dementsprechend über nur wenige Jahrzehnte entscheidend weiterentwickelt. Was früher der Geburtsort war, ist heute die Wahlheimat. Was früher das Familienhaus war, ist heute die WG oder die Single-Bude. Nicht nur eine Partnerschaft verschafft einem mehr das Gefühl des „Zuhause seins“, auch ein Freundeskreis kann dies leisten.

Es sind neue Arten des „Zuhause seins“ entstanden. Doch haben sie alle eins gemeinsam: Man kann sie sich als Räume vorstellen, die Geborgenheit und Sicherheit geben und doch ausreichend groß sind, um für das Andere, das uns Unbekannte offen zu stehen.

Dass es so einfach ist, in einer sich stetig verändernden, grenzenlos erscheinenden Welt und auf Basis sich stetig weiterentwickelnder Lebensläufe sich dennoch egal wo und wie ein Zuhause aufzubauen, hängt meiner Meinung nach vor allem damit zusammen, dass uns der Raum Europa überall Anhaltspunkte gibt, an denen wir uns festhalten, mit denen wir uns identifizieren können.

Neben universellen Werten wie der Achtung der Menschenwürde, Frieden, Freiheit und Solidarität spielen dabei vor allem Kulturgüter und das kreative Schaffen, durch das diese Kulturgüter entstehen, eine bedeutende Rolle.

Kunst und Kultur bieten uns eine geistige Heimat. Sie vermitteln Vertrautheit, Vertrauen und Zusammengehörigkeit. Sie helfen uns egal wo wir uns befinden, auf Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen, mit dem Unbekannten aufmerksam zu werden. Sie geben uns Orientierung.

Eine lebendige Kulturlandschaft stärkt die Bindung der Menschen an ihr jeweiliges Zuhause, das Miteinander und damit auch das Gemeinwesen. Kunst und Kultur verbinden die Menschen: von einem Mitgliedstaat zum anderen, von Land zu Stadt, von alt zu neu, von der Vergangenheit in die Zukunft. Sie spielen somit eine Schlüsselrolle für Selbstvergewisserung und Identifikation mit dem eigenen Umfeld, aber auch mit allem darüber hinaus.

Lassen Sie mich das an drei Beispielen illustrieren, auf die ich im vergangenen Jahr gestoßen bin.

Hier in der Bundeshauptstadt wurde im Rahmen des Europäischen Kulturerbejahres 2018 ein Projekt mit dem Titel „Mein Berlin – bunte Steine – bunte Vielfalt“ durchgeführt.

Kinder und Jugendliche aller Berliner Bezirke erkundeten ihren jeweiligen Kiez und fotografierten und recherchierten nach historischen Bauten und Erinnerungsorten mit europäischem Bezug. Das Brandenburger Tor, das sowjetische Ehrenmahl, der Flughafen Tempelhof, das Haus der Wannseekonferenz oder die Jüdische Synagoge sind nur ein paar Beispiele für die Vielfalt europäischer Kultur in Berlin.

Dabei lernten sie ihren Kiez mit neuen Augen kennen, konnten Hintergründe und Zusammenhänge besser verstehen und sich mit ihrem Stadtbezirk stärker identifizieren. Gleichzeitig haben sie ein Verständnis für das große Ganze, das Europäische erhalten.

Das zweite Beispiel, auf das ich aufmerksam machen möchte, ist eine Ausstellung des Ruhr Museums und des Deutschen Bergbau-Museums in Bochum. Mit „Das Zeitalter der Kohle. Eine europäische Geschichte“ wurden erstmals in einer Ausstellung die Geschichte und die Möglichkeiten des Rohstoffs Kohle aus einer europäischen Perspektive präsentiert.

Kohle ist nämlich nicht nur ein bedeutender Faktor für das Wirtschaften und Arbeiten im Ruhrgebiet gewesen. Sie hat eine ebensolche Rolle in den Benelux-Staaten, Großbritannien, Frankreich und Polen gespielt. Die Ausstellung hat gezeigt, dass die Geschichte, die Traditionen und die Kultur, die wir vor unserer Haustür vorfinden, nie getrennt von dem großen Ganzen betrachtet werden können – oder sagen wir besser „sollten“. Es gibt immer die Regionen-, Länder- und selbst Kontinenten-umspannende Geschichte zu erzählen.

Damit hat die Ausstellung entscheidend dazu beigetragen, dass die Besucher Gemeinsamkeiten mit anderen Ländern Europas und dem dortigen Lebensalltag identifizieren können. Bei einem Besuch dieser Regionen werden sie sich sicher daran erinnern, dass sie die gleiche Geschichte teilen.

Das dritte Beispiel ist der Gewinner des LUX-Filmpreises, den das Europäische Parlament Ende 2018 gekürt hat. Der isländische Film „Gegen den Strom“, der den Preis vergangenes Jahr mit nach Hause nehmen durfte, macht allen Zuschauerinnen und Zuschauern deutlich, dass politisch relevante Kontroversen wie die um den Klimawandel nicht nur in Deutschland geführt werden, sondern überall in Europa. Das zeigt, dass wir sehr viel mit unseren Nachbarinnen und Nachbarn gemein haben, das wir mit den gleichen Problemen kämpfen und diese vielfach auch nur noch gemeinsam lösen können. Und der Film zeigt uns auch, dass wir im Kern die gleichen Sorgen, Ängste aber auch Hoffnungen und Sehnsüchte haben und uns vielleicht auch woanders zuhause fühlen können.

Doch so gern wir Kunst und andere Kulturgüter auch konsumieren, kreatives Schaffen bewundern, uns dadurch Selbstvergewisserung und Identifikation erleichtert wird, stellt sich für mich die Frage, ob Europa denn im Gegenzug auch ein Zuhause für Kultur und Kreativität bietet.

Das Motto der Europäischen Union „In Vielfalt geeint“ sollte einem allen Grund dafür geben, diese Frage zu bejahen. Die Union fördert und schützt die kulturelle Vielfalt.

Dass dies nicht nur Gerede ist, schlägt sich in den vielen verschiedenen europäischen Initiativen nieder: das europäische Kultur- und Medien-Förderprogramm „Kreatives Europa“, die Europäischen Kulturhauptstädte oder das Europäische Kulturerbejahr, das wir vergangenes Jahr feierten, um nur einige zu nennen.

Auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene gibt es ein ähnlich breites Spektrum an Initiativen, um Kultur und Kreativität ein Zuhause zu geben. Alledem ist es zu verdanken, dass die europäischen Kultur- und Kreativsektoren erfolgreicher sind denn je.

Ich weiß, Zahlen sind meistens langweilig. Deswegen werde ich mich auch auf das Nötigste beschränken, um den Erfolg der Sektoren zu verdeutlichen:

2014 hatte die Kulturwirtschaft einen Anteil von 4,2% am europäischen BIP und beschäftigte mehr als sieben Millionen Menschen, was etwa 3,3 Prozent aller Erwerbstätigen ausmacht. Der Sektor ist nach dem Bauwesen und der Gastronomie somit der drittgrößte Arbeitgeber in der EU. In den krisengeschüttelten Jahren zwischen 2008 und 2012 zeigte er sich mehr als robust. Die Anzahl der Arbeitsplätze stieg jährlich um 0,7%, obwohl es in allen anderen Wirtschaftsbereichen einen Rückgang um durchschnittlich 0,7% gab.

Neben diesen Zahlen zeigt sich der Erfolg unserer Kulturlandschaft auch darin, dass die EU aufgrund unseres reichen kulturellen Erbes ein Top-Reiseziel in der Welt ist. Fast die Hälfte der auf der Liste des Welterbes der UNESCO eingetragenen Stätten befindet sich in der Region Europa. Um dies zu bestaunen, kommen die Menschen von überall her. Und die Europäer? Die bleiben daher am liebsten einfach gleich Zuhause.

Das europäische Kulturerbe ist somit nicht nur das verbindende Element zwischen den europäischen Gesellschaften, sondern auch zwischen Europa und den anderen Regionen der Welt.

Auf all das können wir gewiss stolz sein. Dafür können wir uns feiern. Was wir allerdings nicht dürfen, ist uns auf diesen Lorbeeren auszuruhen. Denn so lebendig die europäische Kulturlandschaft auch gerade ist, sehe ich zunehmende Probleme insbesondere in der kulturellen Bildung, beim chancengleichen Zugang zu Kultur sowie bei der Bewältigung der Herausforderungen der Digitalisierung, die sich für den Sektor ergeben.

Kulturelle Bildung

Wie gefährlich Versäumnisse in der Bildung sein können, hat erst kürzlich eine CNN-Erhebung unter Jugendlichen in der EU offenbart. 40 Prozent der jungen Deutschen wissen nach eigener Einschätzung kaum etwas über den Holocaust. Das sind schockierende Zahlen, welche deutlich machen, dass wir ein wirkliches Bildungsproblem haben.

Die junge Generation verbringt heutzutage sehr viel Zeit damit, durch diverse Apps zu swipen, in denen sie zuweilen auch auf kulturell wertvolle Inhalte stößt – egal ob auf Facebook, Instagram oder Netflix. Kultur ist für sie in solchen Momenten aber allen voran ein Konsumgut. Ihnen geht das Gefühl dafür verloren, dass Kultur eine weitergehende Bedeutung für jeden einzelnen sowie für die Gesellschaft einnimmt. Das kann man ihnen nur bedingt zum Vorwurf machen, denn es ist vielfach nicht gelernt.

Kulturelle sowie digitale Bildung müssen daher als integrale Bestandteile unserer Bildungssysteme – und zwar vom Kindergarten bis zur Hochschule – etabliert werden. Jugendliche müssen einerseits lernen, richtig mit den neuen Medien umzugehen und andererseits, den Wert kultureller Güter zu erkennen. Denn wenn unsere Kinder Kultur nicht ausreichend zu schätzen wissen, werden sie sich in Zukunft vermutlich nicht viel um die Erhaltung und Förderung unseres Kulturerbes scheren. Dann werden zukünftige Generationen von Entscheiderinnen und Entscheidern der Kulturpolitik wieder einen geringeren Stellenwert geben. Das kann nicht in unserem Interesse sein.

Der Sektor steckt in Teilen doch jetzt schon in einer Legitimitätskrise. Das ist einerseits mangelnder kultureller Bildung geschuldet. Andererseits liegt es aber auch am Unwillen mancher Kulturpolitiker und des Sektors selbst, die durch die Digitalisierung entstehenden neuen Gegebenheiten zu akzeptieren und sich daran anzupassen. Aber hierzu später mehr.

Zugang zu Kultur

Neben den Herausforderungen im Bereich der kulturellen Bildung müssen wir auch ein verstärktes Augenmerk auf die kulturelle Teilhabe und den chancengleichen Zugang zu Kultur werfen.

Auch wenn unsere Staatsministerin für Kultur und Medien, Frau Grütters, in einem Interview Ende 2018 meinte, „Kultur ist lange schon keine Milieufrage mehr“, kann ich Ihnen sagen: „Doch, das ist sie immer noch!“

Zugang zu Kultur steht auch immer noch stark in Abhängigkeit der ökonomischen Situation der Betroffenen. Zu hohe Kosten bleiben ein wichtiger Faktor dafür, warum viele Menschen sich kulturelle Teilhabe nicht leisten können.

Erschwinglichere Eintrittspreise wären daher ein Anfang, um Besuche in Museen und Kulturerbestätten zu fördern. Wenn ich nach Frankreich schaue, wo Jugendliche unter 26 Jahren freien Eintritt in nationale Museen und Sehenswürdigkeiten genießen, oder nach Italien, wo 18-Jährige von der Regierung seit zwei Jahren einen „Kulturscheck“ in Höhe von 500 Euro erhalten, um Bücher, Kino-, Theater- und Konzertbesuche zu finanzieren, frage ich mich glaube ich zurecht, wieso ähnliche Initiativen in Deutschland nicht möglich sind.

Für Bevölkerungsgruppen, die sozial benachteiligt sind, stellen allerdings nicht nur die fehlenden finanziellen Mittel eine Hürde beim Zugang zu Kultur dar. Sie stehen auch vor psychologischen Barrieren. Sie haben Angst, an einer Veranstaltung teilzunehmen, von der sie glauben, dass sie nicht zur sozialen oder ethnischen Zielgruppen gehören. Sie haben immer noch den Eindruck, dass Kultur vor allem ein Elitenprojekt ist.

Die Nichtteilnahme an kulturellen Veranstaltungen kann sich aber auch aus mangelndem Interesse ableiten. Hier schließt sich der Kreis mit den Defiziten in der kulturellen Bildung, die ich bereits geschildert habe. Wenn Bildungssysteme und Lehrpläne dem kulturellen Bewusstsein nicht genügend Aufmerksamkeit schenken oder Schulreisen zu Kulturstätten und Veranstaltungen ermöglichen, ist es schlichtweg unmöglich bei Kindern und Jugendlichen für solche Aktivitäten Neugier zu wecken.

Digitalisierung

Wenn wir über den Zugang zu Kultur sprechen, dann spielt gewiss auch die Digitalisierung eine Rolle. Sie bietet diverse Chancen, den Zugang zu erleichtern. Viele Menschen merken davon allerdings nichts.

Zwar war es noch nie einfacher kulturelle Angebote zu erleben und selbst kreativ zu sein. Um dieses Potential nutzen zu können, müssen aber auch die nötigen Grundlagen geschaffen werden. Wenn mein Mitarbeiter aus Brüssel beispielsweise in seine Heimat nach Südniedersachsen fährt, um seine Familie zu besuchen, kann er die Nutzung seiner Film- und Serienabonnements vergessen. Denn schnelles Internet ist auf dem Land leider immer noch Wunschdenken. Und dabei wäre dadurch viel getan, um die Partizipation an kulturellen Angeboten zu erhöhen. Ländliche Regionen sind vom Zugang zu Kultur somit nicht nur offline, sondern auch online benachteiligt.

Neben fehlenden Investitionen in schnelles Internet fehlt es uns auch an Ambitionen, den Rechtsrahmen an die durch die Digitalisierung entstehenden neuen Gegebenheiten anzupassen. Ich sprach vorhin von einer Legitimitätskrise des Sektors, die ich gerne an einem Beispiel festmachen möchte, das mich als Kultur- und Medienpolitikern im Europäischen Parlament über viele Wochen und Monate beschäftigte, man könnte auch sagen, mir Kopfzerbrechen bereitete.

Die Tatsache, dass Kulturgüter immer noch an Grenzen Halt machen, ist für die Menschen in einem sonst grenzenlosen Europa nicht zu verstehen. Auch für mich nicht. Dass sie Filme und Serien nicht über Grenzen hinweg abrufen können, macht für sie keinen Sinn. Sie suchen daher nach Lösungen – und umgehen künstlich aufrecht erhaltene Barrieren durch legale VPN-Clients oder illegale Streaming-Plattformen.

Oder sie konsumieren einfach amerikanische Produktionen. Aber ist es nicht traurig, dass wir in der EU etwa doppelt so viele Filme schaffen wie in Amerika und der Marktanteil Hollywoods in Europa trotzdem bei rund 70 Prozent liegt?

Ich bin mir sicher, dass das starre Festhalten an einem Urheberrechtssystem aus einem analogen Zeitalter uns langfristig alle zu Verlierern machen wird.

Zu guter Letzt möchte ich darauf hinweisen, dass die Digitalisierung ständig neue Möglichkeiten der Produktion, der Verbreitung und der Vermittlung von Kulturgütern schafft. So sind beispielsweise bei der Vermittlung von Inhalten jeder Art heute die neuen Medien kaum mehr weg zu denken.

In der Konsequenz wandelt sich die künstlerische Praxis sowie das Anforderungsprofil kulturnaher Berufe. Kultureinrichtungen sind dazu angehalten, ihre bestehenden Angebote zu überprüfen und ggfs. an die neue Lebensrealität anzupassen. Um dem gerecht zu werden, bedürfen kulturpädagogisches und künstlerisches Personal steter Weiterbildung. Und wir müssen dafür die Voraussetzungen schaffen!

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich hoffe, in den vergangenen Minuten eines deutlich gemacht zu haben:

Kultur und Kreativität bilden das Fundament Europas. Sie haben hier ein Zuhause. Doch damit sie auch in Zukunft ein Zuhause haben, muss Kultur Räume und Orte schaffen, die wirklich jedem Einzelnen Inspiration, Erkenntnis oder Irritation, Selbstvergewisserung und Identifikation ermöglichen – ob arm oder reich, jung oder alt, hoher oder niedriger Bildungsgrad, Land- oder Stadtbevölkerung.

Daran sollte uns allen gelegen sein.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.